Luigi Reitani
„Wovon man nicht sprechen soll, darüber lässt sich leicht reden.“
Gedanken zu einem tabufreien Land
Als die Welt noch in Ordnung war, ein italienischer Papst im Vatikan regierte und das staatliche Fernseh- und Rundfunkmonopol fest in den Händen der Christdemokraten lag, in den fernen und bleiernen 1970er Jahren also, da wusste man im katholischen Italien mit Sicherheit, was ein Tabu war. Da gab es z.B. eine Liste von Worten, die nicht im Radio ausgesprochen werden durften: selbstverständlich jene, die mit Sex zu tun hatten oder nur einen Doppelsinn entdecken ließen, aber auch solche, die schwere Krankheiten allzu deutlich bezeichneten. Das Wort „Krebs“ gehörte dazu, sodass Journalisten zu akrobatischen Umschreibungen gezwungen wurden, um diese tabuisierte Erscheinung zu beschreiben. Denn in jeder Familie galt die Maxime: von Sex und Krankheiten redet man nicht! Was für eine ungeheure Provokation war es, als der exzentrische Schriftsteller, Filmmacher und Maler Cesare Zavattini (1902-1989) in einer Radiosendung absichtlich ein Gespräch eröffnete, indem er laut und deutlich „cazzo“ (Schwanz), das Tabu-Wort schlechthin, geradezu ausrief!
Diese Zeiten sind vorbei. Kaum ein Wort, für das ein Verbot verhängt würde, kaum ein Bild, das man nicht ausstrahlen darf: Sex, Krieg, Krankheit, Gewalt. Gibt es noch Sphären, welche im Zeitalter von Internet tabuisiert wären? Über alles lässt sich reden und streiten, über den Papst und über den Staatspräsidenten, über Homosexualität, Geschichtsbilder und Fußballmannschaften. In Talk-Shows und in Leitartikeln, im Feuilleton und auf Facebook. Haben wir uns zu einem (Tabu-)freien Volk gewandelt, das sich das Recht erworben hat, sich zu jedem Thema zu äußern? Selbst das Schimpfwort hat seinen üblen Geschmack verloren und ist tägliches Brot im politischen Kampf geworden. Vulgarität gehört zum angemessenen Ton der Stunde. Von den Demonstrationen der Lega-Nord bis zu den Attacken vom Leader der „5-Sterne-Bewegung“ Beppe Grillo lässt sich kein sensibles Thema mehr auffinden, das nicht angetastet wurde. Wird dadurch eine Bürgergruppe verletzt, reagiert irgendjemand noch entrüstet und schockiert, so kann man sich dafür immer noch entschuldigen. Denn es war freilich nicht so gemeint. Es war just eine Provokation (oder ein Witz, der missverstanden wurde…).
Wir gewöhnen uns seit Langem an einen furchtbaren Zynismus, der alles zulässt und keiner Indignation mehr fähig ist. Ein groteskes Schauspiel geht an uns vorbei und wir schauen dabei angeekelt und doch zugleich angezogen zu wie Jep Gambardella in Sorrentinos Film La grande bellezza.
Die Schmerzschwelle der Zivilgesellschaft ist an einem Null-Punkt angelangt. Woher soll denn jene kritische Tabuverletzung kommen, die uns zum Nachdenken bringt?
Der beschriebene Prozess einer diffusen Enttabuisierung heißt freilich nicht, dass es keine Zonen mehr gibt, worüber Aufklärung nötig ist. Im Gegenteil lässt sich im politischen und kulturellen Diskurs ein erstaunliches Manko an grundsätzlichen Reflexionen über entscheidende Themen beobachten. Gerade die vermeintliche Ausdrucksfreiheit, die aggressive und anscheinend tabufreie Reduktion der Probleme auf einfache und stereotype Formel, verhindert ihre kritische und bewusste Untersuchung. Von Sex wird zwar viel geredet, aber in der Schule hat Sexerziehung überhaupt keinen Platz. Homosexuelle dürfen sich gern outen, solange dies medientauglich ist, werden jedoch trotzdem öffentlich und privat gestempelt. Ignoranz und Abwertung der Kultur werden wohlwollend toleriert – trotz des heuchlerischen Geredes um das Land der Kunstschätze (denn es geht in der Tat um Geld, nicht um Wissen). Chancengleichheit der Geschlechter wird großgeschrieben, ohne aber die herrschenden Verhältnisse in Frage zu stellen, welche die Frauen zum Lustobjekt degradieren. Was die zunehmende Welle der Asylwerber und Migranten tatsächlich bedeutet, wird schlecht und notdürftig thematisiert. Eine echte Vergangenheitsbewältigung hat in Italien nie stattgefunden, sodass der Faschismus alles anderes als überwunden ist – und dies ist vielleicht der Knotenpunkt, an dem sich alle ungelösten und kaum besprochenen Probleme des Landes wiederfinden lassen: die immerwährende Präsenz von autoritären mentalen Strukturen, von unterschwelligem Rassismus, Macho-Denken; der nicht angetastete Militarismus, infolgedessen die Mehrheit der Italiener immer noch stolz auf die Frecce tricolori, die Kunstflugstaffel der italienischen Luftwaffe, oder auf die Alpini, die italienischen Gebirgsjäger, ist; der verbreitete Heimat-Kult, der manchmal dem steuergierigen Nationalstaat entgegengesetzt sein mag, der aber das kleine verklärte Vaterland als Bollwerk gegen die Globalisierung gelten lässt. Wie sonst – ohne diese Kontinuität von faschistischen Denkmodellen – hätte sich Berlusconi zwanzig Jahre lang durchsetzen können?
So hätten wir das Paradox einer Gesellschaft, die keine Tabus mehr zu kennen scheint und dennoch subtilere tabuisierende Prozesse in Gang setzt. Keine Verbote, sondern Neutralisierung durch Nichtbeachtung, Marginalisierung, Anverwandlung. Damit manches verschwiegen wird, soll über alles gesprochen werden und zwar so, dass am Ende alles gleich- und nullwertig erscheint.
Ich habe mich oft gefragt, warum die Texte Elfriede Jelineks in Italien nur eine beschränkte Aufnahme gefunden haben, die nicht ohne Missverständnisse ist. Denn gehen diese Texte nicht gerade jene Themen an, die eine Aufklärung nötig hätten? Sexuelle Verhältnisse als Machtverhältnisse, Faschismus und Vergangenheitsbewältigung, Rassismus und Migration. Warum hat sich die italienische Jelinek-Rezeption vor allem an Die Klavierspielerin angelehnt (und noch dazu über die Verfilmung von Michael Haneke) und ist darin erstarrt? Jelineks Theater kommt nicht auf die Bühne und wenn, dann in Inszenierungen, die diese vielstimmige Dramaturgie monologisch missverstehen. Das hat ganz gewiss mit der Schwierigkeit der Übersetzung zu tun und auch mit der gesamten Situation des Theaters in Italien, die anspruchsvollen Produktionen nicht entgegenkommt. Und dennoch kann ich nicht umhin zu denken, dass Jelineks Texte einer Art raffinierter Vorzensur zum Opfer fallen. Als unverständlich und nicht verkaufbar gilt, was kulturkritisch schwer zu verdauen ist.
So wünsche ich mir, dass Jelineks Texte in Italien zu einer Re-Tabuisierung beitragen können, d.h. zur Erkenntnis, dass es in einer Gesellschaft, die sich stolz ohne Tabus vorstellt, noch immer Themen gibt, die nicht angetastet werden dürfen. Denn das Problem liegt schon darin, die Tabus als solche zu erkennen und die Abwehrmechanismen, die eine produktive Auseinandersetzungen mit zentralen Fragen unserer Zeit verhindern, als Zensur zu demaskieren.
5.5.2014
Luigi Reitani Studium der italienischen und deutschen Literatur an der Universität Bari. 1983 Promotion mit einer Arbeit über Arthur Schnitzler. Ab 2000 außerordentlicher, seit 2005 ordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Udine. 2008 Gastprofessor und Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt. Mehr als einhundert Publikationen in italienischer und deutscher Sprache vor allem zur Goethezeit und zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Übersetzungen und kommentierte italienische Editionen von Werken deutschsprachiger Autoren (u.a. Bachmann, Bernhard, Jelinek, Jandl, Johnson, Mayröcker, Schiller, Schnitzler, Winkler). Herausgeber und Übersetzer einer kommentierten zweisprachigen Ausgabe der gesamten Lyrik Friedrich Hölderlins. Von 2008 bis 2013 Kulturstadtrat der Gemeinde Udine.
ZITIERWEISE
Reitani, Luigi: „Wovon man nicht sprechen soll, darüber lässt sich leicht reden.“ Gedanken zu einem tabufreien Land. https://jelinektabu.univie.ac.at/index.php?id=171580 (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
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