RELIGION
Tabus und Religion sind eng miteinander verschränkt. „Tabus sind [...] religiöse Verbote im Umgang mit dem Heiligen. Sie können mit religiösen Kulten und Ritualen verbunden sein und sich auf körperliche Vorgänge und Zustände, Handlungen, Gegenstände, Tiere, Pflanzen, Räume, Landschaften oder Regionen – aber auch auf Texte! – erstrecken.“[1], schreibt Wolfgang Braungart. Das Wort Tabu stammt ursprünglich aus einem sozio-religiösen Kontext und bedeutet markiert, verboten/heilig, geschützt und unrein, schmutzig. Es bezeichnete etwas, das zum Besitz des politischen und zugleich religiösen Herrschers gehörte und daher unantastbar war.
Im 19. Jahrhundert weitete Robertson Smith den Begriff auf religiöse Vorschriften in Islam und Judentum aus. Zu dieser Zeit wurde auch versucht, mittels des Begriffs ein universelles Urelement religiösen Verhaltens zu beschreiben. In evolutionistischen Theorien galt die doppeldeutige Bestimmung von Tabu als Beweis für die Primitivität von Naturvölkern, die das „Unreine“ noch nicht vom „Heiligen“ unterscheiden könnten. 1912 definierte Emile Durkheim Tabu als System religiöser Verbote, das als negativer Kult das Heilige vom Profanen trennt.
Mittlerweile versteht man unter Tabu kein universelles Konzept mehr, sondern je nach Kulturraum und Religion unterschiedliche Verbote und Meidungsvorschriften, die die Aufgabe haben, von der Norm Abweichendes zu markieren und auszugrenzen.[2]
Der kritischen Hinterfragung dieser Phänomene in unterschiedlichen Religionen durch Künstlerinnen war dieser Bereich gewidmet.
In Hinblick auf Jelineks Auseinandersetzung mit Religion, insbesondere mit dem Katholizismus, fällt besonders die Verbindung von Heiligem und Profanem auf. Jelinek kombiniert religiöses Sprachmaterial mit anderen Intertexten, um Machtstrukturen im Bereich der Religion(en) und der Gesellschaft sichtbar zu machen.
Der erste Bereich widmete sich der Dekonstruktion von religiös geprägten Frauenbildern.
Im Bereich Sünde(rinnen) ging es um die künstlerische Darstellung von Sünden als bewusste Verletzungen religiöser Gebote und um eine Untersuchung der Etikettierung von subversiven Frauen (und Künstlerinnen) als „Sünderinnen“.
Der dritte Bereich beschäftigte sich mit interreligiösen Störungen in künstlerischen Werken. Da jede monotheistische Religion den „wahren Gott“ für sich beansprucht, stellen interreligiöse Überlagerungen einen Tabubruch dar. So vermischen sich bei Jelinek Gottesvorstellungen aus Christentum und Islam. Der Anspruch auf den einzigen, wahren Gott wird auf diese Weise in Frage gestellt.
Im vierten Bereich Machtinstanz wurde analysiert, welche Tabubrüche Jelinek und andere Künstlerinnen begehen, wenn sie religiöse Institutionen als Machtinstanzen entlarven, und welcher künstlerischen Verfahren sie sich dazu bedienen.
[1] Braungart, Wolfgang: Tabu, Tabus. In: Braungart, Wolfgang / Ridder, Klaus / Apel, Friedmar (Hg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 297-327, S. 299.
[2] Vgl.: Schmidt, Axel: Tabu. In: Cancik, Hubert / Gladigow, Burkhard / Kohl, Karl-Heinz (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart: Kohlhammer 2001, S. 160-162 und Braungart, Wolfgang: Tabu, Tabus, S. 299-302.
Bildnachweis: Elfriede Jelinek: Neid. Privatroman. Beginn. http://www.a-e-m-gmbh.com/wessely/fneid1.htm, datiert mit 3.3.2007 (= Elfriede Jelineks Homepage, Rubriken: Aktuelles, Prosa).
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