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Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen am 14.1.2014 im Literaturhaus Wien, an der auch Seher Çakir und Sabine Gruber teilnahmen, und wurde dabei von der Autorin selbst gelesen.
Im Anschluss an die Lesung fand ein Gespräch zwischen den drei Autorinnen, moderiert von Pia Janke, statt. 
Die Beiträge der beiden anderen Autorinnen:

Seher Çakir (Wien, Österreich): 

Tabu

Sabine Gruber (Wien, Österreich):
Tabu or not tabu

Julya Rabinowich

Tabu.Brüche

Das Tabu ist das Tabu ist das Tabu

Julya Rabinowich bei der Veranstaltung am 14.1.2014 im Literaturhaus Wien

DAS Leben einer Frau, wo immer sie in dieser Welt verankert oder nicht verankert ist, wird immer und unausweichlich von Tabus begleitet. Diese Tabus gleichen sich – oder auch nicht, was in einem Gebiet erwünscht ist, kann im anderen gänzlich undenkbar sein, die Freizügigkeit der Darbietung zum Beispiel, die Gebote, wann man spricht und wann man schweigen sollte, was man trägt und was keinesfalls, wie man die Ausscheidungen kontrolliert und zu kontrollieren hat, wie man der Familie begegnet, wie den Fremden oder dem anderen Geschlecht: alles ist voller Begrenzung und Festschreibung, voller Bedrohung und Vorschriften. Und dafür müssen wir uns nicht einmal so extremen Fällen wie den indischen Vergewaltigungsserien zuwenden, die uns immer wieder aufs Neue schockieren, und die nur uns neu sind, die wir nicht in den Gebieten leben, in denen die sexuelle Verfügbarkeit des weiblichen Körpers nicht mit der Zustimmung der Besitzerin verknüpft ist. Diese sogenannte rape-culture ist nicht nur Indien vorbehalten, die Überschreitung der unüberschreitbaren Linie geschieht auch in Europa, in Amerika, in Russland. Sollte zum Beispiel ein beliebtes Fußballklubteam daran beteiligt gewesen sein, womöglich auch noch gruppenweise, ist es plötzlich nicht mehr so weit her mit der Empörung über das Verhalten der Gruppe, und dem Opfer ist ebenso plötzlich Verhöhnung und Opfertäterumkehr mehr oder minder gewiss.
Interessanterweise kann man zwischen all den Unterschieden des Beschämenden und Verbotenen dennoch mehr oder minder weltweit einen größten gemeinsamen Nenner ausmachen, der jede Frau betrifft und deren Alltag immens davon mitbestimmt wird. Ein flächenübergreifendes Tabu, das Königstabu sozusagen, eines, das jeder von uns, die wir hier im Saal sitzen, schon in der einen oder anderen unangenehmen Form begegnet ist: die Menstruation und ihre Spuren.
Diese Befleckung, die das Natürlichste der Welt sein sollte, ist endloser Quell an Industriepropaganda und dementsprechenden Kosmetikartikeln, die jede Bemerkbarkeit der Blutenden tilgen sollen. Geruchsüberlappend. Und immer wird dabei mit der Sicherheit geworben, als ob unser Leben davon abhängen würde, ob wir einen Fleck auf Sessel, Kleid oder Hose hinterlassen könnten, einen Fleck, der mehr wiegt als Schuld und Sühne, einen Fleck, der uns offensichtlich vor Scham im Erdboden versinken lassen sollte, als hätten wir mit voller Absicht einen Haufen Exkremente vor dem frisch gedeckten Festtagstisch abgelegt.
Dieses Tabu ist eines, das mir gleichermaßen sowohl in Russland als auch in Österreich in der gleichen Intensität begegnet ist, ungeachtet anderer gewichtiger Unterschiede macht uns die Monatsblutung gleich unrein vor dem Herrn.
Von der Menarche bis zum letzten Wechseljahr begleitet die Monatsblutung eine Frau und mit ihr das Tabu. Ich sehe nicht ein, warum dieser Zustand, der doch zusammengerechnet eine große Lebenszeit umspannt, die jede Frau damit verbringt, eine Zeit der halbbewussten Furcht und der Vermeidung sein sollte. Um dieses Tabu noch etwas mehr anzukitzeln: jede hier im Raum sitzende Frau wird schon geblutet haben. Und jede hat es versteckt. Es ist unangenehm, öffentlich über die Menstruation, noch dazu über die eigene, zu sprechen. Ich stelle mich gerne als Versuchsobjekt zur Verfügung: ich thematisiere meine Menstruation. Hier und jetzt. Ich fühle mich nicht wohl dabei. Ein Schuss rebellischen Untertons, zwei große Schöpflöffel einer gewissen „awkwardness“, einer …?... ein Viertel theoretisches Interesse und ein Zusatz Mythologie. Viele Mythen schreiben dem Menstruationsblut magische, teils böse magische Kräfte zu. Die weltweit Unreine hat sich religiös besetzten Gegenständen und Orten nicht zu nähern, darf nicht berührt werden, soll in manchen Gesellschaften nicht einmal am Tisch mit den anderen Familienmitgliedern ihre Mahlzeiten zu sich nehmen dürfen, noch vor ca. 50 Jahren hieß es am Land in Oberösterreich, man solle in dieser vermaledeiten Zeitspanne keine Marmelade einkochen, da diese mit Sicherheit misslingen würde. Pontius Pilatus hatte es leicht, der konnte immerhin behaupten, sich die Hände in Unschuld gewaschen zu haben. Was für einen gilt, der immerhin einen Unschuldigen in den Tod befördert hat, gilt aber nicht für die Menstruierenden aller Länder. Und vereinigen dürfen sie sich obendrein auch nicht. Das Leben ist erwiesener Weise nicht fair. Das Tabu sitzt gut verankert, auch wenn Vereinzelte vor allem in der Kunst dieses Tabu mit einem Bruch an die Oberfläche des Gesellschaftsbewusstseins befördern.
Dennoch ist es auch bei mir nicht anders als bei vielen anderen: wie oft habe ich panisch kontrolliert, ob bereits verräterische Streifen auf weißen Untergründen zu sehen waren? Bin bei einer Lesung nicht mehr aufgestanden, weil ich wusste, jeder hätte den Fleck sehen können, mit dem ich die Sitzfläche des Sessels auf der Bühne markiert hatte, weil die Lesung länger dauerte als ich dachte und die Blutung stärker war als gewöhnlich? Ich bin sicher, dass die meisten nichts davon mitbekommen hätten, dennoch saß ich dort wie festgeklebt, wie gefangen und lächelte und lächelte und signierte und erklärte und lenkte während all der Zeit recht verzweifelt ab, und die Zuhörenden waren sehr aufmerksam und interessiert und gingen auch nicht, um nicht unhöflich zu wirken – ich machte ja keine Anstalten, die Bühne zu verlassen! Gesprächsrunde um Gesprächsrunde, die immer mehr in leicht verzweifelten Small Talk überging, saßen wir in dem bereits halbverdunkelten Raum fest. Lost in Menstruation wäre der passende Titel dieser Veranstaltung gewesen, ich, weil ich um den Hintergrund meines Sitzenbleibens wusste, die anderen, weil sie gewissermaßen zu meinen und den Opfern des Tabus geworden waren.
Man fühlt sich beinahe auf dem Präsentiertablett in einem körperlichen Ausnahmezustand, und man greift zu Binden, Tampons, Waschlotions, die einem wie der rettende Ritter auf dem weißen, weil unbefleckten Pferd die Rettung vor öffentlicher Gefahr und Schande versprechen. Haben Sie schon einmal darauf geachtet, wie eine Tamponwerbung aufgebaut ist? Und ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass bekannte Models oder Schauspielerinnen niemals, niemals eine Hauptrolle darin spielen würden, im Unterschied zu Werbungen für Wimperntusche, Käse oder vegetarische, pürierte Ekelzubereitungen im Glas? Gwyneth Paltrow versucht uns schamlos und mit verführerischem Lächeln labbrigen Tofu anzudrehen. Aber Binden? Niemals. Für diese Drecksarbeit ist die Unterliga zuständig, all jene, die sonst keine Aufträge bekommen würden. Geruchssicher. Fleckensicher. Ein kleines Stück Sicherheit, nur für uns. Wie großzügig das ist… Das Leben einer Frau hat – in Russland und in Österreich – eine größere Ausrichtung auf Sicherheit als das Leben eines Mannes, von dem Risikofreude erwartet wird: nicht unbedingt zum Vorteil der Männer. Sie sollte sich besser immer sicher sein: bei der Partnerwahl, bei der Kinderaufzucht, bei der Wahl ihres Umgangs. Beim Spaziergang im dunklen Park.
Man könnte nun zu Recht behaupten, ich hätte jetzt ein Tabu angeführt, ja sogar über die eigene Mitbetroffenheit reflektiert, aber in keiner Art und Weise festgehalten, was man denn mit diesem Tabu nun zu tun gedenke. Das Tabu der Menstruation ist oft und recht genau in literarischen Arbeiten erfasst und beleuchtet worden. Man kann wirklich nicht behaupten, es wäre nicht Thema gewesen. Dennoch blieb es ein Tabu. Mit der Zuwaage, dass man leicht gelangweilt die Nase rümpft, sobald man der Menstruation in der Literatur begegnet, und sich recht schnell des Gedankens – oder der Unterstellung – nicht erwehren kann, die Autorin oder der Autor wolle Eindruck schinden, einen gekünstelten Skandal provozieren und Ähnliches mehr.
Ehrlicherweise müsste man sich aber die Frage gefallen lassen, warum es denn immer noch so ist, dass jenes „Haben wir schon oft gehabt“ immer noch ein Thema betrifft, das trotz offensichtlicher Erfassung immer noch ein Tabu geblieben ist. Den ersten Frauen, die es wagten, die Menstruation am Silbertablett öffentlich zu präsentieren, begegneten Empörung und Häme. Und die Nachfolgenden wurden mit Desinteresse bestraft. Das weibliche, saubere und geruchsneutrale, frisurtechnisch penibel in Façon gebrachte primäre und sekundäre Geschlechtsorgan ist übrigens mitnichten ein Tabu. Im Gegenteil, diese teils sogar chirurgisch in Form getrimmten Schamlippen, der mit Silikon aufgepolsterte Busen und auch die ab und zu mit Silikon aufgepolsterte Vagina hat etwas Öffentliches bekommen. Der Busen geht sowieso frei. In knappen Bikinihöschen darf man auch die Scheide auf Plakaten appetitlich andeuten, so sie nicht haarig ist, denn Schamhaare sind wiederum verboten. In Tageszeitungen findet sich Barbusiges und beinahe vollkommen Unbedecktes. Aufgeklappt sollte sie halt nicht sein. Öffentlich ja, aber ja nicht geöffnet. Die Büchse der Pandora.
Aber alles das ist mitnichten eine Entfesselung des Weiblichen. Ganz im Gegenteil. Das ist die Anpassung eines neuen Korsetts, das nicht von außen festgezurrt wird, sondern von innen heraus, ein Korsett, das man abends nicht aufschnüren und auf dem Sessel neben dem Bett ablegen kann. Die Unterwerfung an eine neu aufoktroyierende Norm.

Das zweite Tabu, von dem hier die Rede sein soll, ist der Schwangerschaftsabbruch. Wie man sieht, auch ein Vorgang, der mit Blut und dem rätselhaften Inneren einer Frau verbunden ist. Interessanterweise ist jenes Tabu eines, das in Österreich massiv vorherrscht, hier sogar als eine kriminelle Handlung interpretiert werden kann und auch interpretiert wird. Ich nehme an, dass die katholische Vergangenheit des Landes stark in diese Tabuisierung hineinspielt. In Russland hingegen war dieser Eingriff erstaunlich wertefrei und offen gehandhabt worden. Zu Zeiten der UdSSR galt der Schwangerschaftsabbruch durchaus als eine übliche Verhütungsmethode, unter anderem deswegen, weil auf die Pille wenig Verlass war, da man nie sicher sein konnte, ob es sie auch regelmäßig am Markt geben würde und die hormonelle Verhütung wenig Sinn machte, wenn aufgrund von Fehlverteilungen in der zentralisierten Marktwirtschaft eine ganze Region für Wochen von der Versorgung abgeschnitten war. Die Generation meiner Großmutter und auch noch die meiner Mutter betrachtete die Abtreibung als ein nötiges Übel, und sie war gesellschaftlich ebenso toleriert, wie die Folgen teils heruntergespielt wurden. Denn die Kehrseite der Medaille ist natürlich jene, dass Trauer, Schmerzen, Wut und Angst als Folgen eines solchen medizinischen Eingriffes keineswegs gesellschaftlich akzeptiert wurden: die betroffene Frau hatte zu funktionieren. Sofort. Vier sowjetische Abtreibungen kamen auf eine Geburt – die Sowjetunion hielt den Weltrekord an Schwangerschaftsabbrüchen. Der Eingriff war legal, kostenlos und wurde brutal ausgeführt. Teils mit nicht stattfindender und so gut wie immer mit ungenügender Narkose. In den allermeisten Fällen ohne der Begleitung des zur Schwangerschaft zugehörigen Mannes. Den ging das meist nichts an. Man konnte darüber offen reden. Durchstehen musste man den Eingriff jedoch allein. In Österreich herrschten zur selben Zeit bessere medizinische Standards und Nachsorge. Das Thema jedoch war ein verschwiegenes, ein schamhaft besetztes und ein zum Teil bis heute gesellschaftlich nicht akzeptiertes. Nach wie vor gibt es in Österreich keine flächendeckende Abtreibung auf Krankenschein. Ein Umstand, der schon einige unschöne Schlagzeilen verursacht hat. Immer wieder fliegen Ärzte und Ärztinnen auf, die ihre Patientinnen halblegal und auf ungenügende Art und Weise versorgen, weil sich immer noch genug Verzweifelte finden, die zu wenig Geld für diesen Eingriff übrig haben. Die Engelmacherin ist nicht so weit weg, wie wir denken. Was tun also mit diesem Tabu? So lange nicht jede betroffene Frau sicher sein kann, vertraulich und garantiert Hilfe zu bekommen, wenn möglich sogar Hilfe und Nachbetreuung auch im psychologischen Sinne, so lange sollte man nicht still sein und still werden. Dieses Tabu lässt sich nur bekämpfen, indem man es immer und immer und immer wieder thematisiert, in der Kunst, in den Medien, im privaten Gespräch. Jener Arzt, der der hilflosen Patientin, kurz bevor sie in Narkose glitt, ins Ohr raunte: „Und das nächste Mal haben Sie aber nur noch Sex, wenn Sie verheiratet sind!“, war in den 1980ern noch Realität! Ich werde den Gesichtsausdruck der Freundin, die mir diese Erinnerungen schilderte, auch nie wieder vergessen: diese Mischung aus Scham und Ekel und wilder Wut, die ihr Gesicht mehr oder minder paralysierte, da die durchaus widerstrebenden Emotionen sich gleichzeitig bemerkbar machen wollten. Die zuckenden Mundwinkel. Die gesenkten, rot geschwollenen Augenlider, die mich in diesem Augenblick an zwei halbgeschlossene Scheiden, die ihr mitten im Gesicht wuchsen, erinnerten. Ich sah diese aufgedunsenen Lidfalten, aus denen Flüssigkeit quoll, an und schämte mich innerlich solch absurder Vergleiche, aber so ist das mit Themen, die geheim und verboten und verschoben sind: sie drängen sich ungefragt wieder an die Oberfläche, so oder so.
Ich hatte sie abgeholt und bei mir zu Hause hingelegt, denn der Arzt, der, wie ich später herausfand, auch ein Polizeiarzt gewesen war, bestand darauf, dass sie die Praxis sofort nach dem Eingriff verließ, obwohl sie aufgrund der zuvor erfolgten Narkose noch nicht fähig war, zu gehen. Daraufhin spritzte er ihr Adrenalin. Sie aber hatte Angst, jemand aus ihrem Bekanntenkreis würde ihren Zustand auf eine magische Art und Weise mitbekommen, und aus diesem Grund wusste weder ihre Mutter davon, noch ihr Exfreund, noch sonst jemand anderer: nur der Polizeiarzt, der Anästhesist und ich teilten ihr Geheimnis. Ein Geheimnis, das sie in dieser Exklusivität an die Machenschaften jenes Arztes, der ganz genau wusste, dass nur jene zu ihm kamen, die sich nicht anders zu helfen wussten, ausgeliefert hatte.
Ich habe dieses Thema in mehreren literarischen Arbeiten vor allem am Beginn meines Schreibens angerissen. Hier denke ich, dass ein Spiegeln in das Literarische dieser Realität einen gewissen Rahmen verleiht, innerhalb dessen man sich leichter wiederfinden kann.

Um Mitternacht wird die Kloschüssel zur Petrischale
Ich sammle Fleischklumpen
die ich und du gewesen sind
und versenke sie darin
die Waage rührt sich nicht
wir sind bereits
gewogen gemessen und
für vergänglich befunden worden
mein Schneidermeister war fleißig
mit roten rohen Stichen
ist der Schmerz an meinem Unterleib befestigt
Kreuzstich
Steppnaht
Zierborte
zwischen Hühnersuppe und Verzweiflung
lungere ich
zwischen den mit mir bemalten Laken“

16.1.2014

Julya Rabinowich, geboren in St. Petersburg, aufgewachsen in Wien. Dolmetschstudium, im Anschluss Studium an der Universität für angewandte Kunst. 2008 erschien ihr Debütroman Spaltkopf, die Romane Herznovelle und Die Erdfresserin folgten. In den letzten Jahren verschreibt sie sich neben ihrer journalistischen Arbeit dem Theater , aktuell: Tagfinsternis am Landestheater Niederösterreich (UA). Zahlreiche Auszeichnungen.

 


ZITIERWEISE
Rabinowich, Julya: Tabu.Brüche. Das Tabu ist das Tabu ist das Tabu. https://jelinektabu.univie.ac.at/tabu/tabu-geschlecht-kunst/julya-rabinowich/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).

Forschungsplattform
Elfriede Jelinek
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