Dieser Beitrag ist eine Reaktion auf:
Adolf Holl (Wien, Österreich):
"Muss das wirklich alles so grauslich sein?"
Über Todsünden im Katechismus und in Jelineks Lust
Welchen Sinn hat es, wenn eine moderne Autorin wie Elfriede Jelinek des Tabubruchs bezichtigt wird? Welche Norm wird hier überschritten, und lohnt es sich, hier wirklich von Tabus zu reden? Es gibt hier Nuancen, die ein Außenseiter wie ich nicht genau wahrnimmt; Tabuthemen etwa, die man nicht als solche erkennt. Oder wir haben uns an bestimmte Dinge schon gewöhnt, sind so abgestumpft, dass wir das Wagnis ausblenden, das die Autorin eingeht, wenn sie so schreibt wie sie es tut. Die, die Tabus verletzt, macht sich selbst verletzlich. Es gibt gesellschaftliche Tabus, Grenzen des guten Geschmacks, die man nicht überschreiten soll. Der Künstlerin sind da vielleicht andere Grenzen gesetzt, oder vielleicht besteht ihre Kunst gerade darin, Grenzen erst als solche sichtbar zu machen, indem sie sie verletzt. Wäre es anders, so handelte es sich bei Kunst um bloße Geschmacklosigkeit, Provokation um der Provokation willen. In einer Kunst, die die Grenzen des guten Geschmacks abschreitet, ist die Grenzüberschreitung beabsichtigt. Tabugrenze wird als Schmerzgrenze wahrgenommen und gewaltsam überdehnt. (Ist das noch Literatur, oder ist es Pornographie?) Grenz- bzw. Tabuverletzung ist bewusste Negation. Sie erscheint heroisch. Der heroisch die Grenze des guten Geschmacks negierend überschreitende Mensch will seinen Bereich um das Tabuisierte erweitern. Oder er (oder sie) will nicht durch das Tabu eingeschränkt bleiben. Er (oder sie) ver-neint die Grenze, will über sie hinaus. Tabus zu berücksichtigen, sie einzuhalten, sich in den vorgegebenen Grenzen zu bewegen, all dies erscheint bedrückend, muffig, spießbürgerlich, unfrei, beschränkt, unideal, nicht erstrebenswert. Die Kunst als Weg in den Freiraum, den befreiten Raum, die Grenzenlosigkeit. Ohne das Tabu und seine Verletzung gäbe es hier allerdings keine Richtung und keine Bewegung. Wo kein Tabu mehr herrscht – also ohne ihren gesellschaftlichen Rahmen –, hat auch die Literatur nichts mehr zu besagen.
All dies betrifft die bürgerliche Ästhetik als Frage, was man als Künstler soll oder gerade noch darf, ohne ganz aus dem Rahmen dessen zu fallen, was noch als Literatur gelten darf. Wie steht es hingegen mit der Religion?
Hierzu fallen einem sofort die entsprechenden Mythen und Historien ein, etwa Evas Griff nach der Frucht vom Baum der Erkenntnis, Luzifers Begehren nach dem Himmelsthron. Das Verlangen nach dem, was uns verwehrt ist, wächst, ja entsteht erst an und durch die Verwehrung. Das Tabu gibt dem Willen die Richtung und die Kraft: je verbotener, desto begehrlicher. Im biblischen und nachbiblischen Judentum gibt es eine ganze Reihe von Tabus und von daher eine reiche Vielfalt an Möglichkeiten zur Tabuverletzung. Der Mensch ist ein Tier, das über sich hinaus will. Dieses Streben wird auf allerlei Weise erklärt. Mythen von der Präexistenz der Seele erklären unseren Wissensdrang. Das erotische Streben unserer Körper erklärt sich aus der Scheidung der anfänglichen Hermaphroditen. Wir streben nach etwas, das uns verwehrt bleibt.
Das Tabu ist aber nicht nur die Grenze dessen, was uns erlaubt ist. Es ist auch Symbol dessen, wonach wir suchen. Der biblische Begriff hierfür ist qodesch bzw. qadosch, wörtlich: der oder das Andere, Abgesonderte, Heilige. Den Gegenbegriff bildet nicht das Unheilige, sondern das Profane, Alltägliche, Allgemeinzugängliche. Das Heilige ist ein Bezirk, den „man“ nicht überschreiten darf. Nur der Priester, und dieser nur nach metikulösen Vorbereitungen, darf – und soll – diese Grenze überschreiten: Zieh die Schuhe aus, denn die Erde, auf der du stehst, ist heiliger Boden. Heilige Dinge, unheilig berührt, können verunreinigen. Dagegen muss man sich schützen. Man bedarf des besonderen Wissens, der Geräte und Reinigungsriten, einer ganzen Spezialwissenschaft, durch die man sich gegen die Verunreinigung oder Entheiligung des Heiligen hütet.
Tabu ist es seit der Tempelzerstörung, den Namen Gottes auszusprechen. Schon vorher war es untersagt, ihn umsonst zu führen. Je stärker die Mystik, desto stärker die Versuchung, Gott durch Tabuverletzung zu zwingen. Wer den geheimen Namen Gottes richtig aussprechen kann, dem steht Gott selbst zu Gebot. So erweckt der Maharal von Prag seinen Golem zum Leben. Der Messias von Izmir, Sabbatai Tzvi (1666 floruit), heiratet eine Torahrolle. Sein unfreiwilliger Übertritt zum Islam wird zum Vorbild für seine tabuverletzerischen Nachfolger, die Dönmeh.
Nach der Lehre des Löwen von Safed (R. Isaak Luria) müssen die Scherben der Gefäße, die beim Einfließen Gottes zerbrachen, dadurch erlöst werden, dass wir uns in die Dunkelwelt, d.h. in die von Gott scheinbar entfernte, in Wirklichkeit von Lichtfetzen durchsetzte, Welt der Sünde begeben und diese erlösen. Tabuverletzung wird hier der Weg zur Erlösung Gottes und der Welt.
Ästhetik und Mystik begegnen sich.
Blasphemie ist ein besonderer Fall des Tabubruchs. Es handelt sich dabei aber nicht um eine subtile Gedankensünde. Der hillul haschem, also wörtlich die Entheiligung des göttlichen Namens, besteht vielmehr darin, dass man durch sein Verhalten Anderen Anlass dazu bietet, den Gott Israels für nichtig zu halten. Die Heiligkeit Gottes ist daher ein durch den Wandel der Juden aufrecht zu erhaltendes Gut.
Einen besonderen Fall des Tabubruchs bildet die sogenannte ethnic apostasy, also das Quittie-ren der Solidarität durch den Übertritt zu einer anderen Gemeinschaft. Man kann sich als Jude vieles leisten, ohne dieses Tabu zu verletzen bzw. diese Grenze zu überschreiten. Man kann homosexuell sein, Diebstahl, Steuerhinterziehung, politischen Mord und andere Untaten be-gehen, ohne die ethnische Solidarität aufzukündigen. An die Grenze geht es für manche, wenn man Israel kritisiert und dadurch seine Liebe zu Israel (ahavas jissroel) in Frage stellt. Ein berühmter Fall dieser Art war Hannah Arendt, die gegenüber Gershom Scholem betonte, man könne nur Menschen, nicht aber ein Volk lieben, noch nicht einmal das jüdische.
Jemandem die Wahrheit sagen, die Wahrheit, wie man sie sieht, das kann verletzen. Es kann aber auch der Anfang einer Begegnung und somit einer Beziehung werden. Wenn Buber vom Ich und Du, wenn Levinas vom Gesicht des Anderen spricht, dann ist hiervon die Rede. Tabuverletzung ist die gewaltsame Rede erst dann, wenn sie nicht mehr den Anderen verfolgt, wenn sie den Anderen um des Selbst willen subsumiert. Hier ist eine absolute Grenze, ein Unterschied, ein Tabu. Es ist millionenfach verletzt worden und wird noch immer verletzt, oft ohne dass davon die Rede ist. Jelineks Arbeit besteht zum Teil darin, genau diese Tabuverlet-zungen, diese alltäglichen Vernichtungen zur Sprache zu bringen. Wie bei den lurianischen Mystikern wird hier die Vernichtung vernichtet, indem sie zur Sprache kommt. Nur was zur Sprache kommt, kann bearbeitet werden. Nur was bearbeitet wird, kann gelöst und überwun-den werden. Ohne Sprache keine Erlösung. Ohne Tabubruch keine lebendige Sprache.
19.12.2013
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Hans Gerald Hödl (Universität Wien, Österreich):
Im Netz der Objektivierung: Tabuisierung, Überwachung und Tabubruch
Michael Zank studierte in Deutschland, Israel und den USA und promovierte in Orientalistik und Judaistik an der Brandeis University. Professor des Fachbereichs Religion an der Boston University (Schwerpunkte: Bibel, Moses, Jerusalem sowie westliche Philosophie der Religion). Derzeit ist er Direktor des Elie Wiesel Zentrums für Judaistik.
Zank ist Experte der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte (Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Leo Strauss). Michael Zanks Blog über Jerusalem-relevante Themen: http://unholycity.blogspot.co.at/
ZITIERWEISE
Zank, Michael: Tabuverletzung als Wege der Erlösung. https://jelinektabu.univie.ac.at/religion/suenderinnen/michael-zank/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
Elfriede Jelinek
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