Dieser Beitrag ist eine Reaktion auf:
Adolf Holl (Wien, Österreich):
"Muss das wirklich alles so grauslich sein?"
Über Todsünden im Katechismus und in Jelineks Lust
Michael Zank (Boston University, USA):
Tabuverletzungen als Wege der Erlösung
Adolf Holl hält sich in seinem Statement stark im Rahmen dessen, was von seiner Ausbildung und Biographie her vorgegeben scheint. Er geht hauptsächlich auf die katholische Sexualmoral ein, die er als eine rigorose Verschärfung dessen, was in der biblischen Tradition zum Ehebruch gesagt ist, in Richtung auf eine völlige Beherrschung im Sinne der Auslöschung des Sexualtriebes liest. Das verankert er in der Tradition der sogenannten „Wüstenväter“ im frühen Mönchtum der Reichskirche in Nordafrika, in der sich die penible Selbstbeobachtung ausbildete, die etwa bei Evagrius Ponticus (†399) auf Grundlage entsprechender Vorlagen aus der hellenistischen Philosophie in eine 8-Lasterlehre ausgebaut wurde, von Gregor dem Großen (†604) in die bis heute geläufige Lehre von den 7 Hauptsünden (aus der Wurzelsünde „Hochmut“, die wir schon bei Augustinus [†430] finden, abgeleitet) gebracht wurde, und über die Summentheologie des Mittelalters in den Katechismus gelangt ist. Mit Ausnahme der anfänglichen Aufzählung, der Erwähnung des Hochmutes und einer kurzen Erläuterung der als „Trägheit“ in den Katechismus gelangten acedia, geht es ihm ausschließlich um die „Unkeuschheit“ in allen ihren Facetten, vom kleinsten geilen Gedanken bis zum Ausleben aller den Trieb regulierender sozialer Gebote verletzender Phantasien. Er zeigt anekdotenhaft auf, wie alles dies durch die moraltheologische Formulierung, in der Verletzung der Keuschheit gäbe es keine leichte Sünde, zu einer umfassenden Dämonisierung außerhalb der in der ehelichen Gemeinschaft zum Zwecke der Kinderzeugung ausgeübten Sexualität, ja jeglicher erotischer Regung, geführt hat. Worauf Holl nur implizit eingeht, wenn er den Unterschied zwischen den „Haltungen“, die diese Laster darstellen und den „Einzelsünden“, die darunter etwa in einem Beichtspiegel aufgeführt sind, anspricht, ist der Unterschied zwischen der peinlichen Selbstbeobachtung des Mönches als Mittel zur eigenen spirituellen Vervollkommnung, wie sie bei Johannes Cassianus (†435) angesprochen wird, und der Instrumentalisierung der Beichtpraxis zu einem Mittel sozialer Kontrolle. Man geht heute davon aus, dass die im östlichen Mönchstum seit Basilius (†379) ausgebildete Tradition der Mönchsbeichte über irische Mönche einen Einfluss auf die Ausbildung des Bußsakramentes in der Form der Einzelbeichte als Mittel der Volksseelsorge gehabt hat. Aus der persönlichen Gewissenserforschung wird die Offenlegung vor einem anderen, im Mönchstum als Mittel der individuellen Vervollkommnung, im Volkskatholizismus mehr und mehr als Mittel der Überwachung. Der Priester wird zu demjenigen, vor dem der/die Einzelne ihre/seine Tabubrüche offenzulegen hat, der Zugriff bekommt auch noch auf die nur in Gedanken begangenen Sünden, die Seele des Beichtenden wird vom Priester nach schmutzigen Gedanken durchforscht.[1] Die von Jelinek ins Spiel gebrachte Idee, dass der Priester sich daran auch aufgeilt, bringt die Objektivierung der „Seele“ der Beichtenden ins Spiel, die in dieser Konstellation völlig nackt, in ihrer intimsten Intimität vor dem Priester dastehen. Im Zusammenhang mit der von Holl dargelegten Fixierung auf das „sechste Gebot“ bekommt die Situation pornographische Qualitäten.
Michael Zank geht zunächst davon aus, dass ein Tabu immer auf eine Sphäre des Heiligen bezogen ist, das dann verunreinigend wirkt, wenn die notwendigen rituellen Mittel im Umgang damit, die den Übergang von der Sphäre des Profanen zum Heiligen regeln, verletzt werden. Damit scheint er sich auf der Grundlage der Durkheimschen Schule zu bewegen, insbesondere auf der Verhältnisbestimmung von Sakralität und Profanität, wie sie von Marcel Mauss und Henri Hubert in ihrem Essay über das Opfer (1899)[2] herausgearbeitet worden ist. Die halachischen Regeln müssten sich demzufolge aus der Grundregel der Nichtverletzung der Sphäre des Heiligen ergeben, aus der eine klare Ordnung der Dinge abgeleitet werden kann.[3] Jede Verletzung dieser Ordnung stellt somit einen „Tabubruch“ dar. Dass ein solcher selbst als notwendig zum Heil angesehen werden kann, zeigt Zank, indem er auf den in manchen kabbalistischen Systemen aufzufindenden Gedanken der Erlösung durch Übertretung eingeht, der auf der Idee der Heimholung der in die Dunkelheit verbannten Lichtteile der ursprünglichen Einheit zurückgeht. Schon Gershom Scholem hat hierin eine – strukturelle, nicht im Sinne einer historischen Ableitung belegbare – Parallele zu einigen gnostischen Systemen wie den Ophiten gesehen.[4] Man könnte – als weitere Familienähnlichkeit im Reich der religiösen Subströmungen – hier die als „linkshändig“ bezeichneten Praktiken im indischen Tantrismus als einschlägig anführen, in denen die Überwindung des Dualismus durch Übertretung von diätetischen und sexuellen Regeln gesucht wird. Tantrismus ist im Westen zunächst vor allem über „Satanisten“ wie Aleister Crowley bekannt geworden, der sich für seine „sexualmagischen“ Praktiken – auf dem theoretischen Hintergrund libertinistischer Gnosis in der Interpretation zeitgenössischer westlicher Esoterik – auch auf diese Quelle berufen hat. Das hat für eine einseitige Aufmerksamkeit auf die sexuellen Tabubrüche im linkshändigen Tantrismus und überhaupt zur Einschätzung tantrischer Systeme (auch im tibetischen Buddhismus) als „sexualmagisch“ geführt.
Manches von dem, was Adolf Holl als „grauslich“ in Elfriede Jelineks Darstellung in Lust bezeichnet, wird aber z.T. von linkstantrischen Praktiken berichtet, die allerdings nur von einigen wenigen Gruppierungen tatsächlich praktiziert werden bzw. worden sind. Nun sind dort die Ausübenden männlich, ihre weiblichen Partnerinnen bei der Übertretung kommen zunächst eben nur insofern in Frage, als sie das Andere im Dualismus darstellen, das in der Tabuverletzung aus der Entgegensetzung in die Zweiheit in die Einheit zurückgeholt wird. Was das Gesamte der tantrischen Traditionen betrifft, in denen die „rechtshändige“ Praxis (ohne tabuverletzende Riten) überwiegt, ist unter den darauf spezialisierten Wissenschaftlerinnen kontrovers diskutiert worden, inwiefern es damit auch zu einer Aufwertung des Femininen in der Welt, der weiblichen Gottheit im Pantheon, der sozialen Stellung der involvierten konkreten Frauen gekommen ist. Von feministischer Seite hat Miranda Shaw nach einer genauen Lektüre der mittelalterlichen Texte des tantrischen Buddhismus dagegen argumentiert, dass Frauen in dieser Tradition nur als ausgebeutete Objekte männlicher Selbstvervollkommnung in Frage gekommen wären und hat für eine Lesart plädiert, die die dargestellte bedeutende Rolle von Frauen in diesen Traditionen als historisch richtig ansieht.[5] Diese Diskussion schließt gewissermaßen an die von Michael Zank aufgeworfene Frage an, ob die eigentliche Tabuverletzung nicht darin besteht, den/die andere/n zum Objekt zu machen, nicht in seiner/ihrer Gleichursprünglichkeit ernst zu nehmen. Wenn er Buber und Levinas zitiert, nimmt er Bezug auf die dialogische Philosophie die – abgesehen von ihren religionsphilosophischen Implikationen – zentral darauf hingewiesen hat, dass der/die andere nicht aus dem Selbstverhältnis des Ich abgeleitet werden kann, sondern diesem Selbstverhältnis vorgängig ist.
In allem, was Holl über die Mönche, über den Religionsunterricht und die Beichtpraxis erzählt, kommt immer nur die männliche Sexualität, vom lüsternen Blick auf das gutgebaute Mädchen bis zum feuchten Traum und Leintuch, in den Blick. Darin wird „die Frau“ tabuisiert, indem sie als Objekt des Begehrens ausgeblendet wird. Eine Überschreitung dieses Tabus bringt „die Frau“, „das Feminine“ als Objekt des Begehrens in den Blick, seltsam abstrakt, wie es ja auch der tabuisierte Gegenstand ist. In Holls Statement taucht eine konkrete Frau und ihr sexuelles Begehren erst gegen Schluss zu auf, in der Gestalt der Dorothea Zemann, aus Anlass ihrer Schilderungen des Verhältnisses zu Herrn Doderer. Das je individuelle Begehren, die je individuelle Suche nach Einheit und Erlösung, sei es die anhand der kulturell vorgegebenen Tabus, sei es die mittels deren Übertretung durchgeführte, ist immer schon in einen sozial vorgegebenen Raum der Abstraktion eingeschrieben, von dessen Regeln bestimmt. Wie Michael Zank es in seinem Essay andeutet, ist „Tabu“ ein relationaler Begriff, im Polynesischen ist tapu als das „deutlich Gekennzeichnete“ auf den Begriff „mana“ bezogen, der eine Art mystischer Kraft bezeichnet, die in stärkerem und schwächerem Maße in Personen, Dingen und an Orten anwesend sein kann. Tapu bezeichnet daraus abgeleitete Rangunterschiede, bezieht sich primär auf die soziale Ordnung. Ein Tapu konnte für die Polynesier darum von einem Nichtangehörigen der Gesellschaft (etwa Europäern), der die Regeln nicht kennt, auch nicht verletzt werden. Die aus den Üolynesischen übernommene Metapher für metonymische Verhältnisse in der Gesellschaftsordnung, die die Regeln des An- und Abgrenzens und der erlaubten Berührungen ergeben, funktioniert meines Erachtens ähnlich. Deshalb ist wohl auch, wie Zank schreibt, die letzthinnige Übertretung diejenige, aus diesem Bezugsrahmen als Ganzem hinauszusteigen, die „ethnic apostasy“. Die von ihm zitierte Hannah Arendt hat aber, so will mir scheinen, die Macht der Abstraktion durchschaut, die in den gesellschaftlichen Regeln herrscht und Abstrakta zu den eigentlich Seienden erklärt, von denen her die Individuen in ihren jeweiligen Relationen des aneinander Angrenzens und sich voneinander Abgrenzens in für einander Berührbares und nicht Berührbares, bis hin zu den erlaubten und verbotenen Berührungen von Körperteilen, eingeteilt werden.
Das Überwachen dieser Grenzen, wie es in einer bestimmten Auffassung der Ohrenbeichte als Herrschaftsinstrument geschieht, stellt eine Überschreitung der schlechthinnigen Grenze, die der/die Andere in seiner/ihrer Eigenmächtigkeit bedeutet, dar, eigentümlich gespiegelt in Tabubrüchen, in denen der/die Andere wiederum nur als Objekt in Frage kommt. Letztere sind wie ersteres Formen der Machtausübung – von subtileren bis hin zu reinen Vergewaltigungen – wie sie uns in Jelineks Lust in all ihrer „Grauslichkeit“ vor Augen gestellt werden.
11.2.2014
Hans Gerald Hödl Studium der Katholischen Theologie und Philosophie an der Universität Wien, 2003 Habilitation am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin, seit 2009 Ao. Univ.-Prof. am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien. Mitherausgeber der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Westafrikanische und Afroamerikanische Religionen, Mormonismus, Ritualtheorien, Religionsästhetik, Religionskritik.
Anmerkungen
[1] Vgl.: Jelinek, Elfriede: Gier. Reinbek bei Hamburg: Rowohl 2004, S. 17.
[2] Vgl.: Hubert, Henri / Mauss, Marcel: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice. http://classiques.uqac.ca/classiques/mauss_marcel/melanges_hist_religions/t2_sacrifice/Melanges_2_sacrifice.pdf (erschienen 1899), 10.2.2014.
[3] Vgl.: Douglas, Mary: Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London: Routledge & Kegan 1966.
[4] Vgl.: Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 326.
[5] Vgl.: Shaw, Miranda: Passionate Enlightenment. Women in Tantric Buddhism. Princeton: Princeton Univ. Press 1994.
ZITIERWEISE
Hödl, Hans Gerald: Im Netz der Objektivierung: Tabuisierung, Überwachung und Tabubruch. https://jelinektabu.univie.ac.at/religion/suenderinnen/hans-gerald-hoedl/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
Elfriede Jelinek
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