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Hilde Haider-Pregler & Anton Pelinka

Zur Rolle der KünstlerInnen bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich - damals und heute

Gespräch mit Silke Felber


Silke Felber: Das österreichische Tabu um die nationalsozialistische Vergangenheit wurde, Heidemarie Uhls These zur Folge, weniger von der Geschichtswissenschaft, als vielmehr von den KünstlerInnen gebrochen.[1] Jelinek bestätigt das, indem sie konstatiert: „Im Österreich der Nachkriegszeit haben fast nur die KünstlerInnen auf die Vergangenheit reagiert, so wie ja auch schon Dada auf das Entsetzen des Ersten Weltkriegs eine sehr wesentliche Reaktion war. […] Was in anderen Ländern die Wissenschaft geleistet hat, hat sich in Österreich in den Bereich der Kunst verschoben.“[2] Wie stehst du als Theaterhistorikerin zu dieser Behauptung?

Hilde Haider-Pregler: Der Behauptung kann man durchaus zustimmen, wenngleich ich sie als überspitzt formuliert empfinde. Auf die österreichische Sonderstellung einzugehen, ist mir zu pauschal. Es entspricht aber der Tatsache, dass die Zeitgeschichte in Österreich lange versagt hat bzw. nicht existent war. Am Theater hat die Beschäftigung einerseits mit Stella Kadmon begonnen, die aus dem Exil nach Österreich zurückgekehrt ist und ihre Kleinkunstbühne Der liebe August schlussendlich, wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten, zurückbekommen und als „Theater der Courage“ weitergeführt hat und als Eröffnungspremiere Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches wählte. Das „Neue Theater in der Scala“, auf Initiative von aus dem Exil zurückgekehrten Schauspieler/inne/n gegründet, bot u. a. bereits während seiner ersten Spielzeit die Uraufführung des Volksstücks Der Bockerer von Ulrich Becher und Peter Preses, das die Situation im Wien der NS-Zeit mit satirisch-kabarettistischen Mitteln schildert, aber keineswegs als beschönigendes Versöhnungsstück missverstanden werden sollte, auch wenn die Tarockrunde 1945 durch die Rückkehr Rosenblatts als US-Officer wieder so wie zuletzt 1938 zusammen sitzt. Allerdings hatte das im sowjetisch besetzten vierten Bezirk gelegene Scala-Theater trotz seiner 1200 Plätze wohl nicht allzu viel Breitenwirkung, da es wegen der KP-Nähe einiger seiner Mitglieder und der Unterstützung durch die Besatzungsmacht als „Kommunistentheater“ galt, 1956 schließen musste und auch von der Theatergeschichtsschreibung langhin ignoriert wurde. Das einschneidende und Tabu brechende Ereignis war wohl Der Herr Karl. In der österreichischen Öffentlichkeit musste man sich ja entschieden vom Nationalsozialismus distanzieren, man berief sich dabei noch Jahrzehnte lang auf die Opferthese, egal ob man vorher „Ja!“ gebrüllt hatte oder tatsächlich dagegen gewesen war. Mit dem Herrn Karl aber wird dieser Verlauf der Geschichte von der Ersten Republik bis hin zum Staatsvertrag aus der Sicht eines österreichischen Opportunisten gezeigt. Meines Erachtens war es aber nicht Herrn Karls heute viel zitierte Heldenplatz-Passage, die das Land in Aufregung versetzt hat, sondern vielmehr seine Schilderung der Zwischenkriegszeit – er zeigt sein Wendehalsverhalten, wenn er an den Brand des Justizpalastes oder an das Jahr 1934 rührt. Die austrofaschistische Vergangenheit des österreichischen Ständestaats war lange Zeit tabuisiert. Dass Der Herr Karl  das ganze Land so in Aufruhr versetzen konnte, lag daran, dass er im damals noch jungen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Nachdem sich der Sturm allmählich gelegt hatte, wurde das Werk jedoch als amüsante Kabarett-Nummer rezipiert. Allerdings muss man dabei auch bedenken, dass gerade die Kleinkunstszene um Bronner, Qualtinger, Merz – und Kleinkunst ist ja Kunst! – immer wieder den Finger auf Vergangenheit und aktuelle Politik gelegt hat. Während man beim Herrn Karl annehmen darf, dass die meisten Leute, egal ob sie sich darüber empörten oder zur zustimmenden Minderheit gehörten, das Werk kannten. Bei Jelineks Burgtheater sieht die Sache jedoch anders aus. Der Herr Karl ist ja eine fiktive Figur, besser gesagt der Negativtypus eines Österreichers, auch wenn Qualtinger und Merz gewiss auf „Vorbilder“ rekurrieren konnten.. Jelinek machte hingegen kein Geheimnis daraus, dass das Stück auf die Vergangenheit der Schauspielerfamilie Wessely-Hörbiger anspielt. Das Stück war zwar im Druck erschienen, aber man darf so gut wie sicher sein, dass der Text wohl fast allen, die sich lautstark empörten, unbekannt war. Die Skandalisierung setzte ein, als sich der Boulevard einschaltete, einige Stückzitate brachte, sich vor allem aber gegen die Demontage zweier noch dazu bereits betagter österreichischer Ikonen heftig verwehrte. Ein Mechanismus wird da sichtbar, den wir später bei Heldenplatz beobachten werden können: Ein Text skandalisiert Menschen, die ihn hundertprozentig nicht kennen. Hätten sie ihn gekannt, hätte er wohl  keinen Skandal hervorgerufen. 

Neue Kronen Zeitung, 31.3.1981

Burgtheater ist kein Schlüsselstück im herkömmlichen Sinn, sondern ein experimenteller Text, der eine Montage – Jelinek selbst steht zu ihrer Montagetechnik in einem Interview mit Kurt Palm – darstellt. Eine Montage aus historischen Zitaten und Elementen der Trivial- und Unterhaltungskultur mit Fokus auf den grauenhaften Propagandafilm Heimkehr (1941), der den Überfall auf Polen rechtfertigen sollte. Aus der Montagetechnik wird zudem ersichtlich, dass Gustav Ucicky später Regisseur der ersten Produktion der Wessely-Gesellschaft nach dem Krieg werden sollte, die Rede ist hier von der Verfilmung des Kirbisch-Epos  von Wildgans unter dem Titel Cordula (1950).

Silke Felber: Herr Pelinka, wie bewerten Sie Elfriede Jelineks Texte und die damit verbundenen Skandalisierungen in den 1980er Jahren im Kontext einer sich damals in Mutation befindenden österreichischen Erinnerungskultur?

Anton Pelinka: Ich würde zunächst von einem segmentspezifischen Bewusstsein sprechen, das immer auch Vergangenheit beinhaltet hat. In der Sozialdemokratie nach 1945 war der 12. Februar 1934 stets lebendig. Zudem hat es die verschiedenen Opfer-Narrative gegeben, aber die waren zugespitzt auf unterschiedliche Gruppen. Ein gesamtösterreichisches Narrativ hat es aus gutem Grund nicht gegeben. Wenn eine Gesellschaft dabei ist, sich neu zu stabilisieren, gibt es, um den Konsens nicht zu gefährden, einen „negativen Konsens“ darüber, worüber man nicht spricht bzw. was man nicht antastet. Dieser negative Konsens beinhaltete in Österreich nach 1945 den Nationalsozialismus, wenngleich dieser keinesfalls das einzige Tabu darstellte. So wurde etwa lange Zeit in der Kommunistischen Partei nicht darüber gesprochen, dass Stalin österreichische Kommunisten an Hitler ausgeliefert hat, die dann in Auschwitz ermordet wurden. Dass es in allen Gruppen eine bestimmte Neigung zu Tabuisierungen gegeben hat, ist nichts spezifisch Österreichisches. Aber in Österreich hat diese Neigung Österreich-spezifische Züge angenommen. 1945 war Österreich befreit und besetzt zugleich. Ziel war es, die Besetzung zu überwinden und nur die Befreiung in den Vordergrund zu schieben. Es herrschte die Notwendigkeit vor, sich der Welt, d.h. zunächst den Alliierten, unter der einseitigen Berücksichtigung der Moskauer Deklaration aus dem Jahr 1943 als Opfer zu verkaufen. Gewisse Dinge durften daher gar nicht ernsthaft zur Sprache kommen. Die Tabuisierung hatte also eine Funktion, die zwar nicht intellektuell redlich war, aber Sinn machte. Zusätzlich verwies jedes Lager auf eigene Narrative, wie etwa die ÖVP auf das Dollfuß-Opfer-Narrativ. In diesem Kontext möchte ich den Film 1. April 2000 erwähnen, der ein immer noch besetztes Österreich im Jahr 2000 aus der Sicht von 1953 beschreibt.

Hilde Haider-Pregler: Darf ich mich in Bezug auf das kollektive Schweigen kurz einschalten? Ich habe 1959 maturiert. In meinem Geschichtsunterreicht wurde die Zeit zwischen 1914 und 1945 in zwei Einheiten abgehandelt.

Anton Pelinka: Ich habe ein Jahr später maturiert und erinnere mich an heftige Diskussionen unter den Schülern. Aufgrund der Lage der Schule [im 8. Wiener Gemeindebezirk, Anm. d. Red.] gab es lediglich Nazi-Buben, die in Roosevelt einen Mann der Juden gesehen haben, und Katholiken. Aber im Unterricht wurde auch nicht darüber gesprochen. Ich würde noch gerne einen zweiten Film erwähnen, Der Engel mit der Posaune (1948).

Plakat zu Karl Hartls Film "Der Engel mit der Posaune", 1948

Emblematisch erscheint mir hier die Dialektik oder Schizophrenie der beiden Söhne, d.h. des Nazi und des Antinazi, verkörpert durch Oskar Werner in einer für ihn untypischen diabolischen Rolle. Paula Wessely schwebt als Urmutter über den beiden. Von der Nazivergangenheit ist keine Rede. Im Engel mit der Posaune wurde anhand der Geschichte der beiden Brüder auch die Gebrochenheit einer Vergangenheit aufgezeigt, die in diesem Film nicht totgeschwiegen worden ist.

Silke Felber: Zurück zu künstlerischen Tabubrüchen der 1980er Jahre, die das kollektive Gedächtnis Österreichs betreffen. Welche Parallelen können zwischen Jelineks Burgtheater und Thomas Bernhards Heldenplatz gezogen werden, etwa in Bezug auf die öffentliche bzw. mediale Erregung im Vorfeld?

Hilde Haider-Pregler: Hinsichtlich der Skandalisierungen nehme ich an, dass Bernhard mehr aufgewühlt hat als Jelinek mit Burgtheater. Der Skandal war bei Heldenplatz, uraufgeführt am 4. November 1988, als besonderer PR-Gag eingeplant, der aber dann in nicht vorhersehbare Bahnen entglitten ist. Bernhard kann im wissenschaftlichen Sinne nicht als politischer Autor definiert werden, im Sinne eines „politischen Theaters“,  wie es etwa Erwin Piscator gefordert hat. Bernhard hat vielmehr ganz bewusst polemisches Theater gemacht. Die Uraufführung von Heldenplatz war im Jahr 1988, das nicht nur das Mahnjahr, sondern auch 100 Jahre Burgtheater am Ring bedeutete. Man war daran gewöhnt, dass das Burgtheater im Rahmen solcher Jubiläen seine sich quasi selbst feiert – exemplarisch für die repräsentative Theaterkultur Österreichs. Vor diesem Hintergrund entschied sich Peymann dazu, Bernhards Heldenplatz, dessen Text geheim gehalten wurde, zu präsentieren. Dann veröffentlichte Sigrid Löffler im profil vorab einen kurzen, auch kurze Passagen des Stückes zitierenden Artikel über Heldenplatz. Diese aus dem Zusammenhang gerissenen Teile aus den Figurenreden wurden in der Folge vom Boulevard, d.h. von der Kronen Zeitung, begierig aufgegriffen und kommentiert wurden. Auffällig ist dabei, dass die Zitate der Rollenfiguren als Bernhards persönliche Meinung interpretiert wurden. Im Spätsommer setzte dann die wirkliche Skandalisierung ein, als sich diverse Menschen, Politiker inklusive, in die Diskussion einzumischen begannen und auch Qualitätszeitungen sich über einen Text erregten, den sie ja gar nicht kennen konnten.. Mit der Uraufführung aber war der Skandal vorbei. Der eigentliche Skandal war, dass das politische Theater sich nicht auf der Burgtheaterbühne abgespielt hat, sondern im Vorfeld auf der Bühne der österreichischen Realität. Überdies beging man den Fehler, dieses Stück Bernhards als ein realistisches zu verstehen. Aber wäre es ein solches, müsste sich die in Heldenplatz beschriebene großbürgerliche Wohnung, die auf den Heldenplatz sieht, entweder im damaligen Gebäude des Stadtschulrates oder aber im Trakt des Bundespräsidenten befinden. Die zwei Brüder wiederum, die gemäß dem Stücktext 1938 nach Oxford emigrierten und dort sofort Professuren bekamen, wären 1988 aller Wahrscheinlichkeit nach bereits tot. Bernhards Stück ist kein realistisches, aber durchaus eines, das eine Handlung und zu charakterisierunge Bühnenfiguren aufweist. Jelinek stellt in Burgtheater weder Attila Hörbiger, noch Paula Wessely wiedererkennbar auf die Bühne. Sie benützt aber die Konstruktion dieser Schauspielerfamilie als Ikonen der Verflechtung von darstellenden Künstlern in die nationalsozialistische Kultur- und Propagandapolitik, indem sie ihnen keine Figurenrede in den Mund legt, sondern sie zu Textträgern von montierten Materialien macht, die sie mit experimenteller Technik zusätzlich verfremdet.

Profil, 26.11.1985

Der Text verlangt eine äußerst präzise Lektüre und viel Rundumwissen, will man ihn wirklich verstehen. Wer aber hat diese Zitate damals entschlüsseln können? Die Generation, die Heimkehr noch im Kino gesehen hat, hat sich bestimmt nicht für Burgtheater interessiert. Die anderen konnten Heimkehr nur kennen, wenn sie in intellektuellen Kreisen verkehrten, die es möglich machten, diesen Film bei wissenschaftlichen Veranstaltungen als Demonstrationsobjekt mit einführenden Kommentaren zu sehen. In Bezug auf Tabubruch und experimentelle Kunst ist vielleicht Jandls Gedicht wien. heldenplatz viel provokanter, das ja auch in experimenteller, Neologismen verwendender Art die Massenhysterie von 1938 einfängt. Bei Jelinek finden sich durchaus Sprachschöpfungen, die an diese Technik erinnern. Sie versucht, den Zorn auf die Vergangenheit und darauf, dass deren Gedankengut subkutan weiterlebt bzw. dass vergangene Schuld bewusst verschwiegen und verdrängt wird, mit dieser Technik zu bewältigen. Öffentlichkeitsaufmerksamkeit bekommt sie hingegen dadurch, dass man glaubt, es handle sich bei dem Stück um eine Schmutzkübelkampagne gegen die Hörbiger-Familie. Man kann Burgtheater nur entschlüsseln, wenn man sich mit der darin abgehandelten Alltagskultur beschäftigt. Vielleicht hätten einige bei Grillparzers Rede auf Österreich gelacht, die Jelinek gegen Ende des ersten Akts hineinmischt. Bei näherem Betrachten ist diese Rede, die man bei uns seit Kaisers Zeiten als das Lob auf Österreich auffasst, äußerst komisch. Man denke nur an den Ausspruch „’S ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein / Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen“.

Anton Pelinka: Gibt es denn in der Grillparzer-Forschung Ansätze, die sich mit der Möglichkeit auseinandersetzt, dass Grillparzer es böse gemeint haben könnte?

Hilde Haider-Pregler: Ich selbst bin überzeugt davon.

Anton Pelinka: Hatte er Probleme mit den Habsburgern?

Hilde Haider-Pregler: Grillparzer hat noch viel Bösartigeres verfasst. Aber zurück zu Jelinek. Die Zerlegung der Sprache, die es übrigens auch in Deutschland in der Stuttgarter Gruppe gegeben hat, weist darauf hin, dass die Sprache damals als derart missbraucht erschien in Bezug auf die Inhalte, die die Nazis so manchem Terminus unterschoben haben, dass man sie nicht mehr naiv zu gebrauchen vermochte. Jelineks experimentelle Techniken sind bei Jandl schon vorgeprägt. Sie sagt zudem, das Theater interessiere sie nicht, aber man könne es gut für Sprachexperimente nutzen. Bei genauerer Lektüre ist diese verfremdete Sprache hin und wieder gebrochen durch einen ganz gewöhnlichen umgangssprachlichen Satz. Hier schließe ich den Kreis zum Herrn Karl und dessen Sprachmasken. Der Herr Karl ist gelesen zwar interessant, aber lange nicht so gut wie gesprochen. Qualtingers Herr Karl hat dieses gewisse Wienerisch. Wird ihm aber bewusst, dass er sich „verirrt“ hat, etwa in der Heldenplatz-Szene, dann bedient er sich einer quasi offiziellen Phraseologie und behauptet: „Dieses arme, geknechtete Volk“.

Anton Pelinka: Er rekurriert wieder auf das offizielle Narrativ und merkt, dass er Acht geben muss.

Hilde Haider-Pregler: Eine weitere Sprachmaske zieht er heran, wenn er sich duckt.

Anton Pelinka: „Ja, Frau Chefin!“ Boshaft und unterwürfig zugleich (lacht). Der Herr Karl war für die damalige Studentengeneration der Durchbruch. Die Gralshüter der alten Tabuisierungen waren entsetzt darüber, die katholische Jugend hat gegen diese „Nestbeschmutzung“ protestiert. Endlich begriffen alle, dass es sich hierbei um das wahre Selbstporträt Österreichs handelte.

Silke Felber: Ich komme noch einmal zurück auf Burgtheater und Heldenplatz. Parallelen zeigen sich also etwa in der Tatsache, dass die Skandalisierungen im Vorfeld und in Bezug auf Texte stattgefunden haben, die in ihrer vollen Länge noch gar nicht bekannt waren. Sind aber in den politisch-medialen Stigmatisierungsprozessen rund um Bernhard und Jelinek Unterschiede zwischen der Etikettierung des männlichen und des weiblichen „Nestbeschmutzers“ auszumachen?

Anton Pelinka: Das wage ich nicht zu beurteilen. Aber bei Heldenplatz handelt es sich offensichtlich um eine bewusst aufgeschaukelte Dramatisierung. Ich bin überzeugt davon, dass Peymann seine Rolle des diensthabenden Piefke am österreichischen Nationaltheater lustvoll mitgespielt hat, um die antideutschen Ressentiments in Österreich zu reizen. Und alle sind ihm in die Falle gegangen. Heldenplatz bringt historisch nichts Neues und weist Brüche auf, die zeigen, dass es sich dabei um kein dokumentarisches Stück handelt. Der Burgtheaterdirektor hat den Skandal von seinen Gegnern geliefert bekommen, den er haben wollte. Noch einmal zu dem von Jelinek aufgegriffenen Film Heimkehr. Wenn ich es richtig verstanden habe, erzählt Heimkehr die Geschichte von volksdeutschen Opfern, die traumatisiert ins Deutsche Reich zurückkehren. Es hat aber im Jahr 1939 überhaupt keine Volksdeutschen gegeben, die aus Polen ins Reich gekommen sind. Vielmehr wurden die Polen aus dem Gau Danzig oder aus dem Gau Oberschlesien vertrieben. Es gab aber Volksdeutsche, die als Folge des Hitler-Stalin-Paktes zurückgekehrt sind. Auch das ist eine Art Tabu. Es gab eine „ethnische Säuberung“ und Umsiedelung aus den von der Sowjetunion kontrollierten Gebieten ins Deutsche Reich. Nicht aber von den Gebieten, die bis September 1939 polnisch waren. Die Volksdeutschen, die in Polen waren, sind geblieben. Diese Tatsache ist in Heimkehr völlig untergegangen und wird von mir mit der Neigung in Zusammenhang gebracht, manche Aspekte der kommunistischen Seite auch mit einem Tabu zu belegen. Die Dramaturgie stimmt jedenfalls zeitgeschichtlich nicht, was im Rahmen der Kritik an Wesselys Rolle in Heimkehr meines Wissens nicht vorgekommen ist. Denn dann hätte man über die Allianz Hitler - Stalin sprechen müssen.

Neue Kronen Zeitung, 12.12.1985

Silke Felber: Aber geht nicht mit der Stigmatisierung Jelineks grundsätzlich eine Dämonisierung der Autorin einher, die in dieser Art in Bezug auf Bernhard nicht ausgemacht werden kann? Gibt es diesbezüglich nicht geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sanktionierung des Tabubruchs?

Hilde Haider-Pregler: Möglicherweise insofern, als die Frau dafür kritisiert wird, als solche über Politik zu schreiben. Aber letztendlich sind sie alle in einen Topf geworfen worden auf den FPÖ-Plakaten.

Anton Pelinka: Das Paradoxe daran ist, dass sich die FPÖ als Hüterin der deutschen Kulturgemeinschaft am deutschen Peymann besonders aufgeregt hat.

Hilde Haider-Pregler: Einen Unterschied kann man machen, wenngleich der nichts mit Geschlechterunterschieden zu tun hat. Bernhard hat sich nie politisch positioniert.

Anton Pelinka: Er war jedenfalls kein Freund der katholischen Kirche.

Hilde Haider-Pregler: Angeblich war er kurzfristig bei der SPÖ, dann einmal beim Bauernbund.

Silke Felber: Jedenfalls war er nie Mitglied der KPÖ.

Hilde Haider-Pregler: Richtig. Jelinek hingegen schon, was mit Sicherheit einen entscheidenden Angriffspunkt dargestellt hat. Burgtheater ist unter anderem 1986 bei Henschel, also in der DDR, erschienen.[3] In einem Interview darin verwehrt sich Jelinek dagegen, als Feministin eingestuft zu werden, wobei sie zwischen einem von ihr scharf kritisierten Mittelstands-Feminismus unterscheidet, wie sie bereits in Nora aufgezeigt hat, und einem wahren Feminismus, der eine gesellschaftliche Veränderung in Solidarität mit den Arbeitern anstrebt.

Anton Pelinka: Das marxistische Modell.

Hilde Haider-Pregler: Sie spricht von westdeutschem Kulturimperialismus, wobei sie allerdings darauf beharrt, dass sie ihr Stück als zutiefst österreichisch empfindet wie auch die damit in Zusammenhang stehende experimentelle Technik und das Sprachbewusstsein.

Silke Felber: Gegenwärtig gibt es eine Polemik um das geplante Deserteursdenkmal des Künstlers Olaf Nicolai, das am Ballhausplatz erbaut werden soll. Politikwissenschafter Walter Manoschek kritisiert in diesem Zusammenhang das Vorgehen der Stadt Wien, indem er behauptet, dass die Errichtung selbst hinausgezögert werde. Ganz allgemein unterstellt er der Wiener Politik Halbherzigkeit und Schleißigkeit im Umgang mit der österreichischen NS-Vergangenheit. Wie sehen Sie das Herr, Pelinka?

Anton Pelinka: Ich schätze Walter Manoschek sehr, würde ihn aber gerne fragen, was er sich von der Stadt Wien abgesehen von Halbherzigkeit und Schleißigkeit erwartet (lacht). Die Stadt Wien ist keine wissenschaftliche Einrichtung, die die richtige Darstellungsform der Vergangenheit festlegt. Sie reagiert auf Druck und Gegendruck. Ich ärgere mich nach wie vor über die halbherzige Inschrift am Hrdlicka-Mahnmal Gegen Krieg und Faschismus. Ich bin für die Errichtung eines Deserteursdenkmals und erwarte mir von der Stadt Wien oder auch von der Republik Österreich eine entsprechende Handlungsinitiative. Besser ein schleißiges Deserteursdenkmal als keines. Ich sehe es jedenfalls im Moment nirgends und mache mir diesbezüglich auch keine Illusionen mehr.

5.3.2014

Hilde Haider-Pregler Studium der Theaterwissenschaft. 1966 Promotion sub auspiciis praesidentis. 1978 Habilitation für das Gesamtfach Theaterwissenschaft, seit 1987 Professur. Lehr- und Vortragstätigkeit an zahlreichen Universitäten in Europa, Canada, USA, Australien, Gastprofessuren an den Universitäten Leipzig, Strasbourg (URS), Ostrava. Tätigkeit als Theaterkritikerin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Österreichische Theatergeschichte, Theater der griechischen Antike, französische Klassik, Theater und Drama im Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung, Exilforschung, Gegenwartstheater und -dramatik, Hörspiel- und Radioforschung.

Anton Pelinka 1975 bis 2006 ordentlicher Professor an der Universität Innsbruck. Gastprofessuren an der Harvard University, der Stanford University, der University of Michigan, der Universität von New Orleans und der Université Libre de Bruxelles. Im Forschungsfeld Vergleichende Politik- und Demokratietheorie liegen seine Schwerpunkte auf Demokratie und transnationaler Politik. Publikationen (u.a.): Europa. Ein Plädoyer (2011), Nach der Windstille (2009), gemeinsam mit Hubert Sickinger und Karin Stögner: Kreisky – Haider. Bruchlinien österreichischer Identitäten (2008) sowie gemeinsam mit Sieglinde Rosenberger: Österreichische Politik (2007).

 

Anmerkungen


[1] Janke, Pia: „Diese falsche und verlogene Unschuldigkeit Österreichs ist wirklich immer mein Thema gewesen.“ Elfriede Jelinek im Gespräch mit Pia Janke. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa / Schenkermayr, Christian (Hg): „Die endlose Unschuldigkeit“. Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel). Wien: Praesens Verlag 2010 (=DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 6), S. 17-23, S. 22.

[2] Ebd., S. 22-23.

[3] Vgl.: Jelinek, Elfriede: Burgtheater. In: Palm, Kurt (Hg.): Burgtheater. Zwölfeläuten. Blut. Besuchszeit. Vier österreichische Stücke. Berlin: Henschel 1986, S. 6-60.


 

ZITIERWEISE
Haider-Pregler, Hilde / Pelinka, Anton: Zur Rolle der KünstlerInnen bei der Aufarbeitung der NS-vergangenheit in Österreich - damals und heute. Gespräch mit Silke Felber. https://jelinektabu.univie.ac.at/index.php?id=169187 (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).

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