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Stefan Krammer & Susanne Scholl

Möglichkeiten und Grenzen des politischen Engagements von Künstlerinnen am Beispiel von Pussy Riot

Ein E-Mailwechsel

Betreff: Email-Wechsel
Von: Stefan Krammer
Datum: Mo, 3.3.2014, 14:58
An: Susanne Scholl

Liebe Frau Scholl, liebe Frau Felber,
in den letzten Wochen sorgte sie wieder für zahlreiche Schlagzeilen: die russische Punk-Band Pussy Riot. Weltweite Aufmerksamkeit erlangten die Künstlerinnen durch ihre Aktion am 21. Februar 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. In einem „Punk-Gebet“ protestierten sie gegen eine patriarchale Herrschaft, wie sie (nicht nur) in Russland durch Staat und Kirche repräsentiert wird. Der Tabubruch ist dabei nicht bloß künstlerisches, sondern auch politisches Programm. Durch die blasphemische Überschreitung werden gesellschaftliche Normen in Frage gestellt, Kunst gleichsam als Revolution aufgeführt. Der performative Akt verfehlt dabei seine Wirkung nicht.

"Punk-Gebet" von Pussy Riot in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau im Februar 2012

Wenn die Künstlerinnen den kirchlichen Altarraum zu ihrer Bühne machen, wird der heilige Ort entweiht, an dem Frauen im Grunde nichts zu suchen haben. Die männlichen Ordnungshüter müssen also eingreifen und entsprechende Sanktionen verhängen. Da hilft auch nicht die Anrufung der Gottesmutter Maria, die zur Komplizin der feministischen Aktion gemacht wird, um das russische Staatsoberhaupt Vladimir Putin aus dem Land zu vertreiben. Der kurze Auftritt der Band, der weniger als 50 Sekunden dauerte, sollte ein langes Nachspiel haben: Verhaftung, Verurteilung, Gefangenschaft, Hungerstreik, Amnestie, erneute Verhaftung. Die lokale Intervention in Moskau vor zwei Jahren entwickelte sich zu einem globalen Ereignis. Die mediale Verbreitung im Internet ist dafür hauptsächlich verantwortlich. Und mit dieser Form von „Global Activism“ scheint sich auch eine neue Protestform als Performance-Kunst etabliert zu haben. In Zusammenhang damit stellen sich für mich Fragen nach der Möglichkeit und den Grenzen des politischen Engagements von Künstlerinnen und auch Künstlern. Inwiefern handelt es sich im Fall von Pussy Riot um die Sanktionierung eines Tabubruchs, der mit dem Eindringen der Frau in die vermeintlich männliche Domäne der Politik einhergeht? Welche Rolle spielen dabei ästhetische Formen und künstlerische Programme? Und welche politische Handlungsmacht wird bestimmten Personengruppen überhaupt zugestanden? Die Thematik scheint angesichts der aktuellen Entwicklungen in Russland aktueller denn je. „Und dann fängt ein andrer Tanz an, der mir jetzt schon entsetzlich Angst macht“[1], schreibt Elfriede Jelinek vor zwei Jahren anlässlich der Verurteilung der Bandmitglieder von Pussy Riot wegen „Rowdytum aus religiösem Haß“. Wie sind Jelineks Befürchtungen einzuschätzen? Was hat das Tanzen, Singen und Schreien von Pussy Riot ausgelöst oder auch verhindern können?
LG,
Stefan


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Susanne Scholl
Datum: Mo, 3.3.2014, 17:56
An: Stefan Krammer

Lieber Stefan Krammer,
der „andere Tanz“ hat ja leider schon begonnen, auf der Krim. Und was mich ein bisschen irritiert ist, dass Pussy Riot gerade ziemlich still ist. In Sotschi haben sie sich noch zu Wort gemeldet – und sind prompt vorübergehend festgenommen worden. Jetzt aber ist ihr politisch-künstlerischer Aktivismus möglicher Weise von der Realität überholt worden. Soll heißen – wenn Putin tatsächlich bereit ist, auf der Krim einen Krieg zu beginnen, dann sind Agitprop-Künstler wie Pussy Riot wohl in einigen Schwierigkeiten. Die Aufmerksamkeit, die sie mit der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale erreicht haben, werden sie jetzt kaum wieder kriegen können. Ja, Pussy Riot hat Tabus gebrochen und das braucht Russland dringend. Tabubrüche jeder Art. Und nicht nur Russland. Aber leider wird man kriegslüsterne testosterongesteuerte kleine Männer mit Tabubrüchen sicher nicht davon abhalten, ihre Machtfantasien auszuleben. Das sind die Grenzen der Möglichkeiten von Performern wie Pussy Riot. Und eines muss auch bedacht werden – die Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale hat in Russland tatsächlich kaum Sympathien erzeugt – nicht einmal bei kritischen Künstlern, ganz zu schweigen vom berühmten „kleinen Mann“, der „kleinen Frau“ auf der Strasse. Das heißt, nicht nur die männlichen Ordnungshüter griffen gegen Pussy Riot ein, sondern auch die weiblichen. Was also war oder ist die Wirkung von Aktionen, wie jene von Pussy Riot? Paradoxerweise wirkt sie umso mehr, je weiter weg der Betrachter steht. Und darin sehe ich eben auch das Problem dieser Art von Performance.
Liebe Grüße,
Susanne Scholl


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Stefan Krammer
Datum: Mi, 5.3.2014, 17:32
An: Susanne Scholl 

Liebe Susanne Scholl,
die Reaktionen, die Pussy Riot mit ihrer Aktion auslösten, sind in der Tat erstaunlich. Aktion und Re-Aktion sind dabei unmittelbar aufeinander bezogen. In der Wechselbeziehung wird die Ausweglosigkeit deutlich: Die Repression, die von Kirche und Staat ausgeht, ermutigt zur Provokation, auf die wiederum mit Repression reagiert wird. Mit Erika Fischer-Lichte gesprochen, lässt sich dieser Prozess auch durch die performative Feedback-Schleife beschreiben, die die Handlungen und Verhaltensweisen der Akteurinnen und der ZuschauerInnen (sei es nun live oder auch via Internet) miteinander verschränkt und dadurch das Ästhetische mit dem Sozialen und Politischen verknüpft.[2] Die Inter-Aktion beeinflusst so das Ereignis, das als Experiment im besten Sinne von Autopoiesis und Emergenz (die ethymologische den Notfall mit sich führt) bestimmt ist. Wie sehr im Fall von Pussy Riot Kunst und Politik zusammenfallen, wird nicht nur durch die in der Aktion vermittelte Botschaft deutlich, sondern insbesondere durch die staatliche Sanktionierung, die in der Verurteilung der Künstlerinnen zur Aufführung kommt. Das, was Pussy Riot in ihrem Auftritt thematisierten, war nun Wirklichkeit geworden. Die in der Aktion angeprangerte Allianz zwischen Kirche und Staat wurde durch das unverhältnismäßig harte Urteil (wie vielerorts konstatiert wurde) bestätigt. Der so gesetzte Staatsakt ist dann auch in seiner performativen Dimension zu betrachten, denn wirkungsmächtig war er allemal. Das wurde auch durch die Protestwelle evident, die nach der Verhaftung und insbesondere nach der Verurteilung der Künstlerinnen einsetzte. Die mediale Präsenz im Internet sorgte auch für eine breite internationale Rezeption und Partizipation. Solidaritätsbekundungen und Protestaktionen kamen nicht nur von KünstlerInnen aus den verschiedensten Sparten, zu Wort meldeten sich ebenso hochrangige PolitikerInnen wie etwa Angela Merkel und Barack Obama. Der kleine Auftritt von Pussy Riot hat damit die große Politik in Bewegung gesetzt. Keineswegs unverhältnismäßig, wie ich meine!
LG,
Stefan Krammer


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Susanne Scholl
Datum: Do, 6.3.2014, 11:32
An: Stefan Krammer 

Lieber Stefan Krammer,
tja, da sehen wir das Ganze doch aus zwei sehr unterschiedlichen Blickwinkeln – wobei ich mich plötzlich in einer ungewohnten Rolle wiederfinde – jener der „Russin“ nämlich. Ich halte es nämlich für irreführend, zu glauben, dass die hochrangigen Politiker, wie Angela Merkel oder Barack Obama mit ihrer Empörung über die Vorgehensweise gegen Pussy Riot tatsächlich irgendetwas bewirkt haben. Im Sinne einer positiven Veränderung in Russland selbst. Herr Putin ist ein sogenannter „sovok“ – also ein Sowjetmensch, wie er im Buch steht. Kritik von außen bestärkt ihn grundsätzlich in dem, was er tut. Dass er die beiden Mitglieder von Pussy Riot vor den Olympischen Spielen in Sotschi frei gelassen hat, hängt mehr mit seinem Gefühl zusammen, sie könnten ihm – vielleicht nicht mehr, auf jeden Fall jetzt nicht –gefährlich werden. Was aber das Aufzeigen der unheiligen Allianz zwischen Kirche und Staat in Russland betrifft, so hat es die immer, auch zu Sowjetzeiten, gegeben. Die Menschen in Russland gehen damit um, indem sie der hohen Kirchenhierarchie nicht und den kleinen Priestern an der Basis sehr wohl glauben. Das Vorgehen von Pussy Riot hat allerdings in Russland selbst kaum Zustimmung gefunden, wenn auch das harte Urteil gegen die beiden vor Gericht gestellten Mitglieder sogar bei manchen Kirchenleuten gelinde gesagt Unverständnis ausgelöst hat. Die Aktion von Pussy Riot hat also „bei uns“ – sprich im sogenannten freien, liberalen, demokratischen? Westen – einiges ausgelöst, bei den eigentlichen Adressaten, den Menschen in Russland nämlich, allerdings sehr wenig. Was natürlich die Frage aufwirft, mit welchen Mitteln man die Menschen in Russland dann aufrütteln kann. Eine Frage, die ich leider momentan auch nicht beantworten kann!
Liebe Grüße,
Susanne Scholl


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Stefan Krammer
Datum: Fr, 7.3.2014, 13:49
An: Susanne Scholl

Liebe Susanne Scholl,
im Sinne eines „Global Activism“ erreichte Pussy Riot eine breite Öffentlichkeit. Mochte die Wirkung vor Ort auch weniger weitreichend sein, als dies außerhalb von Russland der Fall war, so wurde zumindest eine Diskussion angestoßen, in der wieder einmal die Frage verhandelt wurde, was Kunst alles (sein) darf und mit welchen Repressionen zu rechnen ist. Dass hier im ach so liberalen Westen (das Fragezeichen ist mehr als angebracht) andere Maßstäbe als in Russland zu gelten scheinen, darauf hat auch Elfriede Jelinek in ihrer „Verteidigungschrift“ für die verurteilten Bandmitglieder hingewiesen:

Ich habe lange überlegt, wie ich mich mit den Pussy Riot solidarisch erklären könnte. Ich habe sogar einen kleinen Text geschrieben, den ich in meine Homepage stellen wollte, ein Foto von mir selbst dazu, mit verklebtem Mund oder einer Papiertüte über dem Kopf. Ich hab das nicht getan, einerseits, weil mir Aktionismus überhaupt nicht (mehr) liegt, andererseits weil mir bewusst ist, dass ich alles dürfte, um diese Frauen zu unterstützen, die das nicht dürfen sollen, was sie, als ihr ureigenstes Recht, getan haben.[3]

Jelinek schreibt hier und nimmt sich zugleich auch wieder zurück. Sie veröffentlicht einen Text, der zunächst die Schwierigkeiten darlegt, eine angemessene Form zu finden, um Pussy Riot unterstützen zu können. Ein anderer Text wurde aus diesem Grund auch wieder verworfen. Paradox erscheint der Autorin vor allem, dass sie selbst aus einer Position heraus agieren kann, welche den Künstlerinnen in Russland nicht zugestanden wird. Später im Text werden dann andere Zweifel artikuliert, die im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung stehen. Jelinek wollte ihren Text nämlich zunächst nicht publik machen, weil sie befürchtete, den Künstlerinnen damit schaden zu können. Nach der Urteilsverkündung gibt sie den Text dann doch frei: „Jetzt ist ihnen geschadet worden. Jetzt kann wenigstens ich ihnen nicht mehr schaden (und leider auch nicht mehr helfen). Ich kann das nur schreiben. Ich darf das.“[4]

Vorarlberger Nachrichten, 6.9.2012

Jelinek scheint an die Wirkungsmächtigkeit ihres Textes zu glauben, sonst würde sie nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ihr Schreiben irgendwelche Auswirkungen auf den Prozessverlauf haben könnte. Ironie und Übertreibung wären in diesem Fall nicht angebracht. Zugleich bringt Jelinek aber auch eine gewisse Resignation zum Ausdruck. Das „nur“ schränkt den Schreibakt als folgenlos ein. Nur weil sie schreiben darf, bedient sie sich letztlich auch dieses Mittels. Kann sie damit wirklich einen Effekt erzielen? Dass sie mit einem Text in die russische Politik eingreifen kann, ist sicherlich eine Selbstüberschätzung. Was Merkel und Co nicht schaffen, wird auch einer Nobelpreisträgerin nicht gelingen. Jelineks Text kann im besten Fall nur „bei uns“ wirksam werden. Die politischen Verhältnisse in Russland dienen dann als Negativfolie, vor deren Hintergrund die Freiheit der Kunst, wie sie in der westlichen Welt offenbar vorherrscht, proklamiert werden kann. Bewusst wird dadurch, dass diese Freiheit keineswegs selbstverständlich ist.
Alles Liebe und schönes Wochende,
Stefan Krammer 


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Susanne Scholl
Datum: Mo, 17.3.2014, 11:15
An: Stefan Krammer

Lieber Stefan Krammer,
ich fürchte, diesen Dialog hat es trotz allem kaum wirklich gegeben und gibt es auch jetzt kaum. Ich denke, es sind immer nur zwei ganz unerbittlich festgeschriebenen Meinungen erschienen. Entweder wurden Pussy Riot hochgelobt und ihre „Kunst“ als solche und als große bezeichnet, oder man interessierte sich kaum für sie. Beides ist irgendwie unbefriedigend und meinem Gefühl nach auch falsch. Und diskutiert wird auch hier bei uns in diesem Zusammenhang meinem Gefühl nach ja nicht darüber, was Kunst insgesamt kann, darf oder soll, sondern darüber, was sie in Russland können, dürfen oder sollen sollte – schrecklicher Satzbau, ich weiß. So als ob uns die Vorgänge in Russland nur am Rande überhaupt irgendwie etwas angehen. Tatsache ist aber, dass Pussy Riot sehr mutige Frauen sind, die Agitprop machen! Die Qualität oder auch die mangelnde Qualität ihrer Texte und ihrer Musik wird hier bei uns durch den politischen Hintergrund völlig in eben diesen gedrängt – noch ein schrecklicher deutscher Satz – und in Russland ohnehin nicht zur Kenntnis genommen. Wir diskutieren also über etwas, was eigentlich ausschließlich politisch wahrgenommen wird. Hier und dort gleichermaßen. Dabei wäre die Frage, wie Kunst – und zwar jede Kunstform – die gesellschaftliche Entwicklung mittragen oder auch beeinflussen kann, doch wirklich sehr wichtig. Gerade heute, wo wir uns – wiederum meinem Gefühl nach – auf der ganzen Welt in eine ganz gefährliche Schwarz-Weiß-Haltung zu begeben scheinen. Ich weiß, ich klinge vermutlich etwas zu pragmatisch-politisch-schwarzmalerisch, aber der derzeit grassierende allgemeine Wahnsinn ohne jede art der Kompromissmöglichkeit beunruhigt mich zutiefst!
Liebe Grüße,
Susanne Scholl


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Stefan Krammer
Datum: Mo, 17.3.2014, 16:59
An: Susanne Scholl

Liebe Susanne Scholl,
in dieses Schwarz-Weiß haben die Künstlerinnen von Pussy Riot sicherlich ein bisschen Farbe gebracht, allein schon mit ihren grellen Strickmützen, Kleidern und Strümpfen, die sie bei ihren Aktionen tragen. Ihr provozierendes Aussehen ist gleichsam zum Markenzeichen geworden, es symbolisiert ihre rebellische Haltung, ja ihr nonkonformistisches Verhalten. 

Pussy Riot bei einer Performance am Roten Platz in Moskau

Die Sturmhauben, die sie verwenden, verweisen zudem auf das Militär als eine zentrale Domäne hegemonialer Männlichkeit. Dass die im militärischen Bereich gebräuchliche Bezeichnung der Mütze als Balaclava just aus dem Krimkrieg der 1850er Jahre stammt, ist wohl ein Zufall, könnte aber gerade jetzt auch als politisches Zeichen umgedeutet werden. Anknüpfungspunkte dafür gäbe es genug. Denn in der künstlerischen Aneignung und Umfärbung hat Pussy Riot die Kopfbedeckung bereits resignifiziert und zum Sinnbild eines (nicht nur) feministischen Befreiungskampfes gemacht. Die Mütze fungiert dabei als anonymisierende Maske, die das weibliche Gesicht verstellt, um nicht zum Kult bzw. Objekt männlicher Begierde zu werden. Im Sinne eines strategischen Essentialismus wird durch die Kleider und Strümpfe aber zugleich auch der Körper der Künstlerinnen als weiblich markiert. Das Spiel mit Geschlechtercodes ist weniger einem dekonstruktivistischen Gestus geschuldet, als einem Empowerment. Schräg, wenn nicht sogar queer, erweist sich die Aufmachung der Künstlerinnen allemal, schon allein durch die Häufung an Signalfarben, die gar nicht zusammenpassen wollen. Der schlechte Geschmack ist dabei Programm: Die bunte Kleidung ist zugleich Ausdruck ihres Lebensgefühls als Punks, künstlerische Maskerade und (geschlechter)politisches Statement. Das Aufsehen, das Pussy Riot damit erregt, führt zuletzt zu aktionistischen Reaktionen ihrer Gegner, und zwar in Form von Farbattacken. So bunt geht es also zu, in Russland.
LG,
Stefan Krammer


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Susanne Scholl
Datum: Mo, 17.3.2014, 18:52
An: Stefan Krammer

Lieber Stefan Krammer,
es wird eher immer grauer in Russland. Die bunten Kleider und Masken haben Pussy Riot spätestens im Lager abgelegt. Und dass man sie mit Farbe bespritzt, macht Russland auch nicht bunter. Im Übrigen halte ich schreiende Farben, die nicht zusammenpassen, noch nicht unbedingt für Ausdruck eines feministischen Befreiungskampfes. Was sie – glaube ich – weder tatsächlich noch der Intention nach waren. Ihre Auftritte davor waren durchaus nicht als geschlechterpolitisches Statement intendiert – denke ich zumindest. Sie machten Agitprop wirklich reinster Form – und wie wir ja wissen, hat der mit Feminismus noch nie was am Hut gehabt. Das gilt eben auch für die jungen Frauen von Pussy Riot. Im Übrigen bin ich doch einigermaßen verwundert, dass diese so politisch interessierten Frauen gerade jetzt auffallend ruhig sind. Quasi als ob die jetzige explosive Lage „nicht ihre Baustelle“ wäre. Wie gesagt: wenn man das Ganze aus russischer Sicht betrachtet – natürlich aus kritischer wohlgemerkt – dann können sie einem durchaus sympathisch sein und man kann ihre Aktionen mehr oder weniger lustig finden. Aber man würde auch nie so viel in sie und ihre Aktionen hineininterpretieren wie das jetzt im „Westen“ geschieht. Ihre Inhaftierung war ein Skandal und ich bewundere ihren Mut – aber ich halte sie nicht für Vorkämpferinnen in irgendeinem philosophisch-künstlerischen Sinn.
Liebe Grüße,
Susanne Scholl


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Stefan Krammer
Datum: Fr, 21.3.2014, 12:48
An: Susanne Scholl

Liebe Susanne Scholl,
Intention und Interpretation mögen durchaus unterschiedlich sein, das trifft auch auf die Aktionen von Pussy Riot zu. Die mediale Verbreitung im Internet ist dabei auch ein wichtiger Indikator. Denn durch diese wird nicht nur die performative Hervorbringung von Materialität, die sich in Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit manifestiert, verzerrt, sondern es wird dadurch insbesondere auch die aisthetische Rezeption und Interpretation der theatralen Situation verändert. Die Aktionen, die einmalig und unwiederholbar an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Zeit gebunden sind, können in der medialen Aufbereitung jederzeit und überall per Mausklick abgerufen werden. Die kontextuelle Verortung, die für die Einschätzung der Wirkungsmächtigkeit ganz zentral ist, geht dabei leicht verlustig. So sind dann auch die Maßstäbe, an denen die Auftritte in künstlerischer und/oder politischer Hinsicht gemessen werden, nicht immer dieselben. Das zeigt sich im Fall von Pussy Riot auch in der Einschätzung, inwiefern ihre Aktionen als feministisch zu beurteilen sind. Von welchem Feminismus reden wir hier? Gerade auch hier scheinen die Maßstäbe sehr unterschiedlich, welche Mittel adäquat sind, um für die Gleichberechtigung, Menschenwürde und Selbstbestimmung von Frauen einzutreten. Aus einer theoretisch-akademischen Position betrachtet kann den Künstlerinnen zu Recht ein vulgäres Verständnis von Frauenrechten vorgeworfen werden: zu plakativ stellen sie ihren weiblichen Körper zur Schau, zu holzschnittartig beschwören sie die Differenz zwischen Mann und Frau. Doch zugleich präsentieren sie damit einen Standpunkt von Frauen: Indem sie ihre Stimme erheben, geben sie Frauen eine Stimme. Und wenn sie in ihren Liedtexten Fragen der sozialen Gerechtigkeit ansprechen, dann sind darunter auch solche Anliegen, die die gesellschaftliche Stellung von Frauen betreffen. Exemplarisch kann hier der Text des Punk-Gebets, das die Gruppe in der Christ-Erlöser-Kathetrale aufgeführt hat, herangezogen werden: Patriarchatskritik richtet sich nicht nur gegen die Institution der Kirche, sondern insbesondere gegen einen Staat, der durch Putin als „oberstem Heiligen“ repräsentiert wird. Angesprochen wird damit eine hegemoniale Männlichkeit, die – mit Robert/Raewyn Connell gesprochen – als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definiert werden kann, „welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frau gewährleistet (oder gewährleisten soll).“[5] Die Künstlerinnen von Pussy Riot verstehen bzw. inszenieren sich als Opfer von Putins Politik und wenden sich dabei an die Gottesmutter Maria, die – freilich in einer blasphemischen Wendung – als Feministin angerufen wird. Sie sprechen dabei stellvertretend für all jene Frauen, die „gebären und lieben“ müssen, um den „Heiligsten nicht zu betrüben“. Gott und Putin werden hier rhetorisch verschränkt. Das thematisiert auch Jelinek in ihrer Solidaritätserklärung für Pussy Riot: „[…] wen haben sie da gelästert? Gott oder Putin? Oder sind die beiden gleichzusetzen? Wer Putin beleidigt, beleidigt auch Gott?“[6] Ein gewisser feministischer Anspruch ist den Aktionen von Pussy Riot sicherlich nicht abzusprechen. Zu Vorkämpferinnen, auch in einen philosophisch-künstlerischen Sinn, werden sie dadurch keineswegs. Und dass in ihren Auftritten ein großes Potenzial zur realpolitischen Verbesserung der Gesellschaftszustände in Russland (oder auch anderswo) liegt, ist auch zu bezweifeln. Aber immerhin kommt es durch die Aktionen zu einem Kollidieren zwischen Sozialem und Ästhetischen, durch das ein Dissens oder auch Bruch mit der gegebenen Ordnung herbeigeführt wird.
LG,
Stefan Krammer


Betreff: RE: Email-Wechsel
Von: Susanne Scholl
Datum: So, 23.3.2014, 11:53
An: Stefan Krammer

Lieber Stefan Krammer,
das sind viele sehr große Worte – und manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nicht nur für Pussy Riot zu groß sind. Russland, oder besser die Sowjetunion, hat viel über Emanzipation und Geschlechtergleichheit geredet und in der Praxis das eklatante Ungleichgewicht durch verschiedene Regelungen noch verschärft. Am Ende sind Generationen von Frauen aufgewachsen, deren größten Wunsch man so zusammenfassen kann: keine Arbeiten verrichten zu müssen, die körperlich für Frauen einfach nicht machbar sind. Nicht unter Androhung rechtlicher Schritte auf jeden Fall arbeiten und die Kinder in schlechten Kinderunterbringungsstätten abgeben müssen – das Recht also zu haben, bei den Kindern zuhause zu bleiben und Hausfrau zu sein. Und schließlich: einen Mann, der nicht trinkt, sie nicht schlägt und sein ganzes Geld nachhause bringt. So banal das klingen mag, so verständlich ist es, wenn man sich die Realität der sowjetischen Frauen anschaut. Die Auswirkungen sind bis heute deutlich spürbar, denn die jungen russischen Frauen wollen genau das: zuhause bleiben und von einem „guten“ Mann ausgehalten werden. Sie werden sagen, dass das für Pussy Riot nicht zutrifft, aber da liegen sie falsch – denn Pussy Riot agiert vor allem vor genau diesem Hintergrund. Und bezogen auf diese Situation. sie sind so mutig, weil sie es sein müssen – was für alle sowjetischen und russischen Frauen immer schon gegolten hat. Sie agieren auf überlieferte „weibliche“ Art und Weise, mit einem Gebet als Mittel, Putin los zu werden – natürlich im übertragenen Sinn. Aber sie stellen das grundsätzliche Problem der Frau als „untergeordnetes“ Wesen nicht wirklich in Frage – und das ist immer noch das Hauptproblem auch im heutigen Russland. Wenn ein Land einen aus allen Poren Machismo sprühenden Präsidenten hat – wobei man durchaus die Frage stellen muss, warum er dies so besonders betonen muss – dann ist ganz klar, dass Frauen nach wie vor auf eine sehr eingeschränkte Rolle reduziert werden, dass „die große Freiheit“ dem Mann vorbehalten bleibt. Frauen wie Pussy Riot akzeptieren das in gewisser Weise, indem sie ihren Protest „verweiblichen“. Vor allem aber muss man eines leider immer wieder unterstreichen: Auch wenn sie im Internet laut und nachhaltig diskutiert werden, so haben die Aktionen von Pussy Riot in Russland tatsächlich kaum Spuren hinterlassen – sieht man von einigen besonders bigotten Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche ab. Und das ist sehr, sehr schade. Denn Russland braucht dringend einen öffentlichen Dialog – den Pussy Riot aber eben nicht ausgelöst hat.
Liebe Grüße,
Susanne Scholl

27.3.2014

Stefan Krammer, Studium der Deutschen Philologie, Theaterwissenschaft, Mathematik und Linguistik an den Universitäten Wien und Lancaster. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wien, dort mit der Leitung des Fachdidaktischen Zentrums Deutsch betraut. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur, Deutschdidaktik, Gender, Dramen- und Theatertheorie. Publikationen insbesondere zu Bernhard, Jelinek und Winkler.

Susanne Scholl, promovierte 1972 in Rom zum Doktor der Slawistik und begann ihre journalistische Laufbahn in der Auslandsredaktion der apa. 1985 Wechsel in die Osteuroparedaktion des ORF. 1989 Korrespondentin in Bonn, ab 1991 in Moskau, wo sie 1994 die Leitung des ORF-Büros übernahm. 1997-2000 Leitung des ORF-Europajournals in Wien. 2000-2009 Auslandskorrespondentin des ORF in Moskau. Susanne Scholl hat Sachbücher, Romane und Gedichte veröffentlicht und mehrere Preise und Auszeichnungen für ihre journalistische Arbeit erhalten.


Anmerkungen


[1] Jelinek, Elfriede: Singen. Tanzen.Schreienhttp://www.a-e-m-gmbh.com/ej/fpussy.htm (25.3.2014), datiert mit 2012 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2012, zu Musik und Gesellschaft).

[2] Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 80-81.

[3] Jelinek, Elfriede: Singen. Tanzen.Schreien.

[4] Ebd.

[5] Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: Springer 2006, S. 98.

[6] Jelinek, Elfriede: Singen. Tanzen.Schreien.

 


ZITIERWEISE
Krammer, Stefan / Scholl, Susanne: Möglichkeiten und Grenzen des politischen Engagements von Künstlerinnen am Beispiel von Pussy Riot. Ein E-Mailwechsel. https://jelinektabu.univie.ac.at/politik/protest/stefan-krammer-susanne-scholl/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).

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Texte - Kontexte - Rezeption
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