Elfriede Jelineks Aufführungsverbote für Österreich
Elfriede Jelineks literarisches Schaffen wurde von Beginn an durch Skandalisierungen von Seiten der politischen und medialen Öffentlichkeit begleitet. Die Autorin reagierte auf die öffentlichen Kampagnen, bei denen es selten um literarische Diskussionen, sondern meist um persönliche Diffamierungen ging, mit einem immer stärkeren Rückzug aus der Öffentlichkeit, der auch in zwei dezidierten Aufführungsverboten, die sie 1996 und 2000 für Österreich verhängte, sichtbar wurde.
Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie es zu diesen Aufführungsverboten gekommen ist und in welchem Kontext Jelineks Rückzüge aus der österreichischen Öffentlichkeit zu sehen sind.
Zensur und Selbstzensur
Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert Zensur als „Prüfung einer Äußerung hinsichtlich ihrer Zulässigkeit und die danach getroffene Maßnahme der Textregulierung oder des Publikationsverbots.“[1] Zensur ist somit eng mit gesellschaftlichen Tabus verbunden, sie produziert und markiert diese, indem sie darüber bestimmt, was in einer Gesellschaft öffentlich artikuliert werden darf und was nicht. Fälle von Zensur verweisen auf Grenzen und Grenzüberschreitungen vorgegebener Normen, so ließen sich anhand einer Historiographie der literarischen Zensur – die seit Beginn der Literaturproduktion eng mit dieser verbunden ist – Rückschlüsse auf die in unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften geltenden Normen und Werte ziehen. Literarische Zensur wirft gleichzeitig die Frage nach künstlerischer Autonomie auf, da Zensur von weltlichen oder religiösen Instanzen ausgeübt wird, die das Werk nicht als künstlerischen Ausdruck, sondern als Meinungsäußerung einer realen Person betrachten.[2]
Klaus Kanzog unterscheidet zwei Formen der Zensur: die „formelle“, staatliche Zensur, und die „informelle“ Zensur, bei der ökonomische, politische und/oder soziale Zwänge dazu führen, dass bestimmte Äußerungen unterlassen bzw. verändert werden.[3] In den europäischen Staaten existiert keine „formelle“ Zensur, da die Freiheit der Kunst in den Verfassungen der Länder festgeschrieben ist und somit vom Staat garantiert wird.[4] In Österreich wurde die uneingeschränkte Freiheit der Kunst 1982 in die Verfassung aufgenommen, so heißt es im Bundesgesetzblatt Nr. 262 aus dem Jahr 1982, Artikel 17a. StGG: „Das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre sind frei.“[5] Die Festschreibung dieses Gesetzes sollte garantieren, dass moderne, avantgardistische KünstlerInnen nicht länger kriminalisiert werden konnten. An dieser Stelle sei etwa auf Günter Brus verwiesen, der 1970 aufgrund seiner Kunstaktion Kunst und Revolution (1968, gemeinsam mit Otto Muehl und Peter Weibel) wegen „Herabwürdigung der österreichischen Staatssymbole“ zu sechs Monaten verschärften Arrests verurteilt wurde, aber auch auf VALIE EXPORT, der, ebenfalls 1970, wegen der Mitherausgabe des Bandes Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film[6], das Sorgerecht für ihr Kind entzogen wurde (die Staatsanwaltschaft stufte den Band als „unzüchtige Schrift“ ein).[7] Dass die Freiheit der Kunst jedoch auch nach 1982 in Österreich nicht immer gewährleistet ist und immer wieder neu verhandelt werden muss, zeigen zwei prominente Fälle: Herbert Achternbuschs Film Das Gespenst wurde 1983 in Österreich wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren“ beschlagnahmt, der Film ist bis heute durch eine oberstgerichtliche Entscheidung mit einem Aufführungsverbot belegt.[8] Der Paragraf 188 StGB, der für die „Herabwürdigung Religiöser Lehren“ Strafen vorsieht, ist in Österreich auch heute noch gültig. Nur ein Jahr später, im August 1984, kam es aufgrund einer Klage wegen übler Nachrede und Beleidigung zur Beschlagnahmung von Thomas Bernhards Roman Holzfällen. Da das Buch zum Zeitpunkt des gerichtlichen Beschlusses bereits ausgeliefert war, wurden in einer großangelegten Polizeiaktion am 29.8.1989 alle Exemplare aus den österreichischen Buchhandlungen entfernt, was die größte Debatte der Zweiten Republik um die Freiheit der Kunst und das Eingreifen des Staates in Kunstangelegenheiten zur Folge hatte.[9] Die Beschlagnahmung des Romans wurde aufgehoben, nachdem die Klage gegen Thomas Bernhard im Dezember 1984 zurückgezogen wurde.
Neben gesetzlichen Maßnahmen kann der Staat auch durch Subventionen, Preis- und Stipendienvergaben indirekt Zensur ausüben. Deutlich wurde das etwa im Jahr 2000, als Jörg Haider dem Ingeborg-Bachmann-Preis die Finanzierung des Landes Kärnten entzog. Er reagierte damit auf das Verbot von Ingeborg Bachmanns Erben, die für die Zeit der Regierungsbeteiligung der FPÖ untersagten, den Namen der Autorin weiterhin für den gleichnamigen Literaturpreis zu verwenden.[10]
Diese Fälle „informeller“ Zensur in Österreich, die um zahlreiche Beispiele ergänzt werden könnten, zeigen, dass auch in Ländern, in denen die Freiheit der Kunst vermeintlich durch die Verfassung geschützt ist, indirekt Zensur ausgeübt wird, um zu garantieren, dass bestehende gesellschaftliche Tabus unangetastet bleiben. Der Druck, den diese verdeckte Form der Zensur ausübt, führt häufig zur freiwilligen Selbstzensur von KünstlerInnen.[11] Die medialen und politischen Skandalisierungen (die in Österreich zentral von der Boulevardpresse, allen voran von der Kronen Zeitung, betrieben wurden) kritischer AutorInnen wie Peter Turrini, Gerhard Roth, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek fanden in den Rückzügen Thomas Bernhards und Elfriede Jelineks Höhepunkte, die nochmals verdeutlichen, dass die Freiheit der Kunst durch verdeckte Formen der Zensur in Österreich erheblich eingeschränkt wird.
Elfriede Jelinek selbst machte immer wieder auf Fälle von Zensur in Österreich aufmerksam und versuchte, die Mechanismen sichtbar zu machen, die dabei auf KünstlerInnen einwirken. So publizierte sie aus Anlass des Verbots von Achternbuschs Film in der Volksstimme den Text Über einen Fall von Zensur und stellte Parallelen zum Faschismus her, wo „man den ‚gesunden Volkskörper‘ vor Zersetzung und Fäulnis zu schützen trachtete.“[12] Im Rahmen einer Umfrage der Zeitschrift The Germanic Review gab sie – anders als andere befragte KünstlerInnen[13] – an, dass Zensur in Österreich ausgeübt würde, nämlich immer dann, wenn gesellschaftliche Tabus angetastet würden: „Die Zensur äußert sich in Österreich vorwiegend in der öffentlichen Beschimpfung kritischer, fortschrittlicher Künstler. [...] Drei künstlerische Themen scheinen in Österreich besonders zensuranfällig: die katholische Kirche (in Österreich Staatsreligion), die Sexualität, linke, gesellschaftskritische Auffassungen.“[14] Sie bringt die Zensurbestrebungen zentral mit einem in Österreich vorherrschenden konservativen Kunstverständnis in Verbindung, das vorwiegend durch die beiden Parteien ÖVP und FPÖ vertreten wurde.
Elfriede Jelinek übte in dem Sinn ab Mitte der 1980er Jahre Selbstzensur, als sie auf mediale und öffentliche Skandalisierungen mit Rückzügen aus der österreichischen Öffentlichkeit reagierte. Beginnend mit der Berichterstattung um ihren Theatertext Burgtheater (1985) sperrte sie einzelne Theatertexte wie Stecken, Stab und Stangl (1996), Rechnitz (Der Würgeengel) (2008), Winterreise (2011) bzw. ihr gesamtes dramatisches Werk für Aufführungen in Österreich.
Jelinek hob bislang alle Verbote nach einiger Zeit wieder auf, einzig der Theatertext Burgtheater ist weiterhin für Österreich gesperrt (das Wiener Burgtheater ausgenommen), durfte jedoch 2005 vom Theater im Bahnhof (Graz) inszeniert werden.[15] Neben dem Verbot aufgrund gesellschaftlicher Sanktionierungen beschloss Jelinek im Jahr 2000 ein Aufführungsverbot für Österreich, um auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ (die für sie einem politischen Tabubruch gleichkam) zu reagieren. Dieser Rückzug ist als eindeutige Sanktion der Autorin gegen die Regierung einzuordnen und als singulär in der Zweiten Republik einzustufen.
Aufführungsverbot
Auffallend an Jelineks Rückzügen aus der Öffentlichkeit ist, dass diese immer auf ein Aufführungsverbot ihrer Theatertexte beschränkt blieben und nie ein Auslieferungs- oder Abdruckverbot mit einschlossen. Jelineks Österreich-Boykotts waren somit immer Rückzüge aus dem Theater, das eine besondere Form der Öffentlichkeit generiert.
In der Forschungsliteratur werden Aufführungsverbote meist dann diskutiert, wenn es sich dabei um Fälle staatlicher Zensur handelt. Aufführungsverbote, die von den AutorInnen selbst beschlossen werden, finden seltener Eingang in die wissenschaftliche Diskussion und werden eher im Feuilleton behandelt. Aktuell kann hier auf Dea Loher verwiesen werden, die ein Aufführungsverbot der Premierenfassung ihres Stücks Unschuld (2013, Theater Bremen) bewirkte, da sie mit der Umsetzung durch den Regisseur Alexander Riemenschneider nicht einverstanden war. Zu denken wäre aber auch an René Pollesch, der seine Texte für Dritte sperrt, da er sie an seine Person gebunden sieht. Diese Form des Aufführungsverbots und die damit verbundene Steuerung der Rezeption gibt es bei Jelinek nicht, die sich im Gegenteil dafür ausspricht, ihre Texte als Material zu benutzen und als RegisseurIn auch „Co-AutorIn“ zu sein. Wie bereits ausgeführt, reagiert Jelinek mit ihren Aufführungsverboten auf politische und gesellschaftliche Diffamierungen bzw. sanktioniert damit selbst Überschreitungen von Tabus. Diese Form des Aufführungsverbots ist seltener, es gibt jedoch vergleichbare Fälle in der deutschsprachigen Theatergeschichte. Anzuführen wäre Arthur Schnitzler, der sein Drama Reigen (1921) aufgrund antisemitischer Angriffe und politischer Sanktionen mit einem Aufführungsverbot belegte, das er auch testamentarisch festhielt, sodass die Sperre bis zum 1.1.1982 aufrecht blieb.[16] Als weiteres Beispiel kann Bertold Brecht genannt werden, der aus Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen für sein Lehrstück Die Maßnahme (1930) ein Aufführungsverbot erließ, das bis zur Inszenierung durch Klaus Emmerich am Berliner Ensemble im Jahr 1997 (im Vorfeld der Feiern zum 100. Geburtstag Brechts) eingehalten wurde.[17]
Elfriede Jelineks und Thomas Bernhards Aufführungsverbote unterscheiden sich von den genannten Beispielen dahingehend, dass sie meist nicht nur einzelne Werke, sondern das Gesamtwerk betrafen. Ein Spezifikum beider AutorInnen ist darüber hinaus, dass ihre Aufführungsverbote dezidiert für Österreich galten und auf Österreich beschränkt blieben.
Thomas Bernhards Österreich-Boykott
Jelineks Aufführungsverbote werden häufig mit denen Thomas Bernhards in Verbindung gebracht. Jelinek selbst legte diesen Vergleich nahe, da sie in Statements und Interviews auf Bernhard rekurrierte und ihn als Vorbild nannte. So verwies sie in einem Interview aus Anlass der Uraufführung ihres Theatertextes Raststätte oder Sie machens alle (1994, Burgtheater Wien) auf Bernhard und deutete an, dass auch sie aufgrund der medialen Skandalisierung ähnlich zu handeln bereit wäre: „Jetzt verstehe ich Thomas Bernhard und sein Testament. Eine Anregung.“[18]
Bernhard, der in Österreich ebenfalls als „Nestbeschmutzer“ diffamiert wurde, verfügte zwei Tage vor seinem Tod testamentarisch ein gänzliches Druck-, Aufführungs- und Vortragsverbot seines Nachlasses für Österreich. Dieser testamentarische Beschluss löste in den deutschsprachigen Medien heftige Reaktionen aus und wurde als Bernhards letzte Rache am österreichischen Staat interpretiert.[19] Diesem Verbot gingen jedoch zahlreiche temporäre Verbote für den Abdruck seiner Werke und die Inszenierungen seiner Stücke in Österreich voraus. Bernhard schrieb etwa 1972 an seinen Verleger Siegfried Unseld bezüglich einer geplanten Inszenierung von Ein Fest für Boris am Wiener Burgtheater:
[…] bitte versuchen Sie unter allen Umständen eine Aufführung meines „Boris“ am Wiener Burgtheater zu unterbinden, ich befürchte das Schlimmste und in das Schlimmste will ich mich nicht einlassen. […] Ich lege keinerlei Wert [darauf], auf diesem Theater unter den derzeitigen Umständen gespielt zu werden. Die Zeit, meine Schauspiele im Wiener Burgtheater (und überhaupt in Wien) zu spielen, ist noch nicht da. Wer weiss [sic], ob sie überhaupt kommt.[20]
Thomas Bernhards Werk löste in der österreichischen Öffentlichkeit von Beginn an heftige Debatten aus, die – was auch auf Jelinek zutrifft – in der Boulevardpresse schnell von literarischen zu politischen und gesellschaftlichen wurden. Die Skandalisierungen um Bernhard fanden ihren ersten Höhepunkt mit der Beschlagnahmung seines Romans Holzfällen (1984), auf die er am 9.11.1984 mit einem Leserbrief, der in der Tageszeitung Die Presse veröffentlicht wurde, reagierte. Darin kündigte er ein für Österreich geltendes Auslieferungsverbot all seiner bislang erschienen und zukünftigen Bücher für die Zeit des gesetzlich festgelegten Urheberrechts an und begründete dies mit dem Umgang des österreichischen Staates mit kritischen KünstlerInnen:
Da das Interesse des österreichischen Staates an mir und meiner Arbeit seit Jahrzehnten allein darin zu bestehen scheint, meine Arbeit und mich von Zeit zu Zeit vor Gericht zu stellen, ist mein Entschluß nur konsequent.
Zum vierten und nicht zum ersten Mal ist man dabei, mir als Schriftsteller einen jener lächerlichen und jahrelangen Prozesse zu machen, die dieser Staat zu verantworten hat. Mit Rücksicht auf meinen Gesundheitszustand allein kann ich mir derartige erniedrigende und entwürdigende Prozesse, die in keinem anderen Staat Mitteleuropas möglich wären, nicht mehr gestatten.[21]
In einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld bekräftigte er den von ihm gefassten Entschluss und resümierte: „Meine Bücher und meine Theaterstücke sollen der ganzen Welt gehören, nicht aber Österreich. Für alle Zeiten!“[22] Die literarische Öffentlichkeit solidarisierte sich mit Bernhard und protestierte gegen die hier verübte staatliche Zensur,[23] Bernhards eigenem Auslieferungsverbot hingegen wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dieses erste umfangreiche Verbot sollte mit November 1984 in Kraft treten, da jedoch der Vertrag mit den Salzburger Festspielen 1985 für die Uraufführung von Bernhards Der Theatermacher bereits unterzeichnet war, legte Bernhard fest, dass das Aufführungsverbot seiner Stücke unmittelbar danach für Österreich gültig würde.[24]Die Uraufführung von Der Theatermacher (1985, Salzburger Festspiele) löste heftige Debatten aus, so etwa verwies der damalige Finanzminister Franz Vranitzky (SPÖ) darauf, dass „Österreich-feindliche“ Stücke wie dieses bei den Salzburger Festspielen künftig nicht mehr akzeptiert und AutorInnen nicht mehr subventioniert werden würden, die sich in ähnlicher Weise über Österreich äußern würden. Die öffentliche Polemik wurde vom damaligen Unterrichtsminister Herbert Moritz (SPÖ) noch verstärkt, der Thomas Bernhard als „Fall für die Wissenschaft, aber nicht nur für die Literaturwissenschaft“[25] bezeichnete – womit er deutlich auf die Psychiatrie anspielte. Thomas Bernhard reagierte mehrmals öffentlich auf diese Angriffe und hielt aufgrund der erneuten Diffamierungen an seinem Abdruck- und Aufführungsverbot für Österreich fest, das von seinem Verleger Siegfried Unseld jedoch bereits 1985, bei Erscheinen des Romans Alte Meister (1985), umgangen wurde.[26] Claus Peymann, der seine Burgtheater-Direktion 1986 mit einer Bernhard-Inszenierung eröffnen wollte, versuchte, den Autor zu einer Aufhebung des Aufführungsverbots zu bewegen, woraufhin Thomas Bernhard schließlich den „Salzburger Ausweg“[27] fand, zu dem Siegfried Unseld im Briefwechsel festhielt:
Doch er schlug Peymann etwas vor, wonach er auch sein Gesicht bei diesem Verbot wahren könnte: 1985 wird bei den Salzburger Festspielen „Der Theatermacher“ uraufgeführt. 1986 soll Peymann „Ritter, Dene, Voss“ in Salzburg uraufführen, und diese Aufführungen könnte er dann an die Burg mitnehmen! So Thomas Bernhard, der genialste Regisseur seiner selbst.[28]
Unseld wies Bernhard auf den Widerspruch hin, seinen Österreich-Boykott gerade für die Salzburger Festspiele, die gänzlich vom österreichischen Staat subventioniert werden und die als äußert konservatives Festival bekannt sind, zu beenden.[29] Bernhard setzte sich aufgrund seiner Bindung an Peymann jedoch weiter für diese Lösung ein, sodass Peymann seine Burgtheater-Direktion mit zwei Bernhard-Stücken eröffnen konnte, mit Der Theatermacher und Ritter, Dene, Voss. Bernhards erster gänzlicher Rückzug aus Österreich blieb somit folgenlos, mit der Burgtheater-Intendanz Peymanns wurde Wien zum wichtigsten Spielort seiner Stücke. Der Höhepunkt der medialen und politischen Skandalisierung fand 1988 aus Anlass der Uraufführung von Bernhards Stück Heldenplatz statt – mit dem ursprünglich die 100-Jahr-Feier des Burgtheaters am Ring begangen werden sollte. Wie bei vorhergehenden Kampagnen wurde die öffentliche Debatte durch die österreichische Boulevardpresse initiiert, an der sich schnell auch einzelne Parteien und PolitikerInnen beteiligten. Robert Weninger hält fest, dass alle großen literarischen Debatten um die deutschsprachige Literatur nach 1945 „unweigerlich, ja mit beinhahe erschreckender Zwangsläufigkeit, in nicht-literarische Bahnen gelenkt [wurden], und zwar ausnahmslos ins Politische.“[30] So waren auch bei der Skandalisierung um Heldenplatz namhafte österreichische PolitikerInnen zentral beteiligt, neben Vizekanzler Alois Mock (ÖVP) sprachen sich Ex-Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ), der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk und Jörg Haider (FPÖ) öffentlich für ein Verbot des Stückes aus, Erhard Busek (ÖVP) rief zum Publikum-Boykott auf.[31] Die Kampagnen um die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz lösten abermals eine Debatte um die Freiheit der Kunst aus, die etwa der damalige Bundeskanzler Kurt Waldheim mit Blick auf Bernhards Texte neu zur Diskussion stellte.[32] Demgegenüber protestierten KünstlerkollegInnen gegen die poltische und mediale Skandalisierung: die IG Autorinnen und Autoren veröffentlichte eine Solidaritätserklärung, Erich Fried, Barbara Frischmuth, Josef Haslinger, Elfriede Jelinek, Gerhard Roth, Michael Scharang, Peter Turrini und Gernot Wolfgruber riefen zu einer Gegendemonstration gegen eine für die Premiere von Heldenplatz angekündigte Protestveranstaltung auf („Wenn die Hinterwälder auf einem Kulturkampf bestehen, sollen sie ihn haben.“[33]). Die Kampagnen gegen Thomas Bernhard, die die Debatte um Heldenplatz auslösten, führten schließlich dazu, dass der Autor kurz vor seinem Tod 1989 testamentarisch ein gänzliches Abdrucks- und Aufführungsverbot seines Werks und seines gesamten Nachlasses erließ.
Elfriede Jelineks Rückzüge aus der österreichischen Öffentlichkeit
„Die Optik ist etwas sonderbar. Elfriede Jelinek gibt mehrere Interviews, um anzukündigen, daß sie keine Interviews mehr geben will. Sie geht an die Öffentlichkeit, um zu verlautbaren, daß sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen will.“[34]
Sigrid Löffer beschreibt treffend das Paradox der Rückzüge Elfriede Jelineks, die gleichzeitig zu Höhepunkten ihrer öffentlichen Präsenz wurden. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit war bei Jelinek immer auch eine Bewegung in die Öffentlichkeit, da sie in Statements, Interviews und persönlichen Auftritten die Beweggründe für ihre Rückzüge ausführte.
Erstmals sprach Elfriede Jelinek 1992 in einem Interview mit der Zeitschrift News über die Möglichkeit eines gänzlichen Rückzugs aus Österreich („Das ist mein letztes Interview – und meine letzte Theaterarbeit. [...] Diese Form der Literatur bedingt eine Öffentlichkeit, die ich nicht mehr ertrage.“[35]). Anlass war die öffentliche Debatte um die geplante Uraufführung ihres Theatertextes Raststätte oder Sie machens alle (1994, Burgtheater Wien) in der Inszenierung von Claus Peymann, die in den österreichischen Boulevard-Medien schnell von der künstlerischen Debatte zu einer Hetzkampagne gegen die Autorin wurde.[36] Unmittelbar nach der Uraufführung im November 1994 ging sie in einem Interview mit der Kleinen Zeitung konkreter auf ihren Wunsch, sich aus Österreich zurückzuziehen, ein: „Ich überlege, ob ich noch an dem Ort, an dem ich lebe, aufgeführt werden möchte. Ob ich dieses ordinäre Geschrei noch aushalte. Dabei schätze ich so, wie Peymann mit Sprache umgeht. Dennoch muß ich mit meiner Arbeit emigrieren. Also keine Uraufführung mehr in Wien.“[37]Das bereits 1994 angekündigte Uraufführungsverbot weitete Jelinek im April 1996 – kurz vor der Uraufführung ihres Theatertextes Stecken, Stab und Stangl (1996, Deutsches Schauspielhaus Hamburg) – auf ein allgemeines Aufführungsverbot ihrer Stücke für Österreich aus und ergänzte es um den Zusatz, künftig auch keine Interviews in Österreich zu geben. Jelinek selbst führte zwei Gründe für ihren Rückzug an: Die Hetzkampagne der Boulevard-Medien um die Uraufführung ihres Theatertextes Raststätte oder Sie machens alle und die fehlende Solidarität ihrer KollegInnen und der Presse anlässlich des von der Wiener FPÖ im Jahr 1995 affichierten Wahlplakats „Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk – oder Kunst und Kultur?“. Jelinek äußerte sich in Interviews mit österreichischen und internationalen Zeitungen kritisch über die unsolidarische Haltung ihrer KollegInnen,[38] die erst nach Wochen auf die kulturfeindliche Kampagne reagierten, mit Ausnahme von Peter Turrini, der in Bezug auf das Wahlplakat der FPÖ von „gezielte[r] Existenz- und Menschenvernichtung“[39] sprach.
Jelineks Rückzug 1996 war mit zahlreichen Interviews verbunden, in denen sie auf die politische und gesellschaftliche Sitatution in Österreich einging und die bestehenden Verhältnisse kritisierte. Bereits eine Woche nach ihrer Bekanntgabe, keine Interviews mehr in Österreich zu geben, erschien in der Zeitschrift News (eine Zeitschrift, die, trotz einer durchwegs positiven Berichterstattung über Jelinek, immer wieder durch plakative Schlagzeilen an den Skandalisierungen um die Autorin beteiligt war) ein großes Interview mit dem Titel: Die Emigrantin. Jelinek im Interview: „Deshalb sage ich adieu.“[40] Auffallend ist, dass Jelinek in Bezug auf ihren Rückzug aus der österreichischen Öffentlichkeit von „innerer Emigration“ sprach. Der Begriff der „inneren Emigration“ wird in der Forschung zentral für AutorInnen herangezogen, die in der Zeit des Nationalsozialismus nicht aus Deutschland emigrierten, sich jedoch politisch, geistig oder künstlerisch vom System distanzierten.[41] Somit rückt Jelinek mit ihrer Begriffswahl die Haltung des österreichischen Staates gegenüber kritischen KünstlerInnen und die damit verbundenen öffentlichen Kampagnen in die Nähe des Nationalsozialismus und macht gleichzeitig darauf aufmerksam, dass KünstlerInnen in Österreich zur Selbstzensur gezwungen sind, was immer ein Signal für totalitäre Regime ist.
Die Ankündigung des Rückzugs fand in den Medien große Resonanz. Kein Bericht über die Uraufführung ihres neuen Theatertextes Stecken, Stab und Stangl kam ohne den Verweis auf Jelineks Aufführungsverbot aus. Jelinek selbst äußerte sich in allen Interviews zur Uraufführung auch zu ihrem Aufführungsverbot und betonte, dass ihr Text eigentlich in Österreich gezeigt werden müsste.[42] So löste gerade die Sperre ihres Textes für Österreich, die weitere Skandalisierungen verhindern sollte, erneut eine öffentliche Debatte aus. Wurde bei Raststätte in Zeitungsberichten und Leserbriefen gefordert, dass Jelinek Österreich verlassen solle, kam es nun auch zu der umgekehrten Forderung, dass Jelineks neuer Text in Österreich inszeniert werden müsse.[43]
Jelinek relativierte ihr Aufführungsverbot bereits nach wenigen Tagen, so berichtete Der Standard, dass Jelinek sich auch in Wien eine Inszenierung von Stecken, Stab und Stangl vorstellen könne, sobald „die erste Welle der Empörung sich gelegt habe“[44]. Es gab Bestrebungen, den Text im Rahmen der Wiener Festwochen 1996 als Gastspiel in Wien zu präsentieren, die jedoch nicht realisiert werden konnten.[45] Die österreichische Erstaufführung des Theatertextes fand schließlich 1997 im Kasino am Schwarzenbergplatz in der Regie von George Tabori statt. Mit dieser Inszenierung war das Aufführungsverbot für Österreich beendet.
Jelinek wurde in den folgenden Jahren verstärkt in Österreich gespielt, so wurde ihr Theatertext Ein Sportstück durch Einar Schleef 1998 im großen Haus des Wiener Burgtheaters uraufgeführt und bei den Salzburger Festspielen 1998 gab es einen Jelinek-Schwerpunkt in der Reihe Dichter zu Gast.
Im Jahr 2000 sprach Jelinek ein zweites gänzliches Aufführungsverbot ihrer Stücke für Österreich aus, lockerte dieses jedoch unmittelbar nach der Bekanntgabe und nahm die freie Szene aus diesem Verbot aus. Anders als 1996 ist dieser Rückzug in einem breiteren Kontext zu sehen, nämlich als Protest gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000, dem sich zahlreiche österreichische KünstlerInnen anschlossen.
Die österreichischen Nationalratswahlen im Oktober 1999 brachten eine Veränderung der politischen Landschaft mit sich, die beiden Großparteien SPÖ und ÖVP verloren erheblich an Stimmen, und die FPÖ unter Jörg Haider wurde zweitstärkste Kraft. Elfriede Jelinek veröffentlichte bereits im September 1999 Wahlempfehlungen für die SPÖ, um so den von ihr befürchteten Rechtsruck zu verhindern.[46] Direkt nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses gab Jelinek ein Statement ab, in dem sie betonte, dass diesem Wahlergebnis ein öffentlicher Protest folgen müsste: „Da man mit Haider nicht reden kann, muss man die Straßen besetzen, um gegen ihn und seine Wähler, die ihren Wohlstand nicht teilen wollen, aufzubegehren.“[47] Jelinek engagierte sich von Beginn an im Protest gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ. In Interviews votierte sie für eine große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP, nach Bekanntwerden des Scheiterns der Koalitionsverhandlungen erschien in der Tageszeitung Der Standard ein resignierendes Resümee der Autorin: „[…] eine stabile Mehrheit haben wir ja schon, sie heißt Schwarz-Blau und wird das Land dann endgültig und dauerhaft destabilisieren. Es ist bedauerlich, aber es ist vielleicht das, was wir verdienen, so wie wir auch einen Bundespräsident Waldheim letztlich verdient haben.“[48]
Im Protest gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ rückten in den österreichischen und internationalen Medien von Beginn an KünstlerInnen in den Mittelpunkt, die seit Jahrzehnten Kritik an der FPÖ übten – zentral engagierten sich André Heller, Ioan Holender, Elfriede Jelinek, Ignaz Kirchner, Gerard Mortier, Hermann Nitsch, Dietmar Pfergerl, Gerhard Roth, Werner Schneyder, Peter Turrini und Gert Voss an den Protesten.[49] Der Kulturkampf, den die FPÖ als zentrales Wahlkampfthema lancierte, und der medial bereits vor den Wahlen ein wichtiges Thema war, wurde so in der Zeit der Regierungsbildung fortgeführt. Elfriede Jelinek, die sich regelmäßig in Interviews und Statements zu den aktuellen Entwicklungen um die Regierungsbildung äußerte, wurde zu einer Schlüsselfigur der österreichischen Protestbewegung. Die dpa veröffentlichte am 28.1.2000 Ausschnitte aus einem Interview mit der Autorin, in dem sie ankündigte, nicht mehr in Österreich leben zu wollen, sollte es zu einer Regierungsbeteiligung der FPÖ kommen. In diesem Interview stellte Jelinek resignierend fest: „Ich bin verzweifelt, denn ich habe durch meine Arbeit lange versucht, das zu verhindern, was jetzt eingetreten ist. Und ich sehe, dass Opposition nicht möglich ist. Alles, was wir als Künstler versucht haben, hat Haider nur stärker gemacht.“[50] Wenige Tage später relativierte sie ihre Aussage und stellte richtig, dass sie selbst Österreich nicht verlassen könne und werde, dies jedoch das stärkste Signal wäre.[51] Nach Angelobung der ÖVP-FPÖ-Regierung am 4.2.2000 beschloss Jelinek ein Aufführungsverbot ihrer Theatertexte für österreichische Staatstheater für die Zeit der Regierungsbeteiligung der FPÖ. In der Tageszeitung Der Standard publizierte sie den Text Meine Art des Protests, in dem sie ihre Entscheidung damit begründete, dass die Sprache der Literatur der Sprache der extremen Rechten nichts mehr entgegensetzen könne.[52] In einem Brief an die Dramaturgin Rita Thiele formulierte sie ihre Bedenken, weiterhin in Österreich Kunst zu machen, noch deutlicher, hier schrieb sie, dass die „[...] ekelhafte Verlautbarungssprache eben nicht mehr zu bekämpfen ist mit einer, meiner literarischen Sprache. […] Also jetzt einfach Stücke zusammenstückeln und dann spielen, Opas Opern, Musik musizieren, das geht nicht.“[53] Gleichzeitig betonte sie in diesem Brief jedoch, dass sie Texte jederzeit aufführen ließe, die auf die aktuelle politische Lage reagierten, was verdeutlicht, dass es sich im Jahr 2000 nie um ein generelles Aufführungsverbot gehandelt hat, sondern Jelineks Rückzug ein politischer war: „Ein schneller Text zur Lage, wenn ich ihn hätte, ja, den würde ich sofort aufführen lassen. Aber so… es ist besser zu schweigen, […].“[54]
Jelineks Rückzug aus der Öffentlichkeit stellte einen Wendepunkt in der öffentlichen Debatte dar. Weniger als der Protest der KünstlerInnen gegen die FPÖ wurde nun die Frage nach der Rolle und gesellschaftlichen Verantwortung von KünstlerInnen thematisiert, die schnell auf die konträren Positionen „Gehen oder bleiben?“ reduziert wurde.[55] Dadurch wurde die sich am Protest beteiligende Künstlerschaft in zwei Positionen gespalten. Luc Bondy, Andrea Breth, Franzobel, Norbert Gstrein, Robert Menasse und Peter Oswald – um nur einige zu nennen – betonten die Wichtigkeit des aktiven Protests, der auch über kritische Kunst stattfinden müsse. Jelinek hingegen wurde durch ihren Österreich-Boykott zur zentralen Figur der Gegenposition, obwohl sie selbst nie direkt in die Debatte eingriff. Gerard Mortier, der damalige Intendant der Salzburger Festspiele, solidarisierte sich mit Jelinek und warnte vor einer Instrumentalisierung kritischer KünstlerInnen durch die FPÖ. Er gab bekannt, im Fall einer Regierungsbeteiligung der FPÖ seinen Vertrag mit den Salzburger Festspielen aufzulösen, zog dies allerdings nach wenigen Wochen zurück und blieb bis Vertragsende 2002 Intendant. Neben Jelinek und Mortier kündigten weitere Kunstschaffende an, im Fall einer Regierungsbeteiligung der FPÖ nicht mehr in Österreich arbeiten zu wollen, so etwa H. C. Artmann, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl bzw. lehnten staatliche Ehrungen und Preise ab (z.B. Valie Export). Der Versuch einer Instrumentalisierung kritischer KünstlerInnen durch die FPÖ wurde bereits unmittelbar nach der Angelobung der ÖVP-FPÖ-Regierung sichtbar, was folgendes Interview der deutschen Zeitung Tagesspiegel mit Jörg Haider im Juni 2000 belegt:
HAIDER: [...] der Thomas Bernhard wurde nicht generell beschimpft. Der war schon gut. Der war der einzige kulturelle Politologe in Österreich. Der hat wirklich wahnsinnig viele gute Vorstellungen und Beiträge geliefert. Sein Stück "Heldenplatz" ist großartig. Denn da hat er sich sehr kritisch mit dem österreichischen System auseinandergesetzt. Beim Bernhard konnte man am Schluß fast schon glauben, daß er ein politischer Unterstützer unseres Weges ist.
Vielleicht finden Sie in zehn Jahren auch Jelinek genial.
HAIDER: Vielleicht. Ich finde sie ja nicht schlecht. Sie ist nur leider eine von den vielen, die sich von der linken Schickeria politisch instrumentalisieren lassen.[56]
Die Diskussionen, die Jelinek auslöste, sind sicherlich der Ambivalenz ihres Rückzugs geschuldet. Ähnlich wie 1996 äußerte sich der Boykott gerade in einer verstärkten öffentlichen Präsenz der Autorin: Jelinek engagierte sich bei den Protesten gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung und nahm persönlich an den Großdemonstrationen in Wien teil. Sie veröffentlichte weiterhin Texte und Interviews in österreichischen Zeitungen und Magazinen, darüber hinaus wurde aus Anlass der Donnerstagsdemonstrationen ihr neuer Theatertext Das Lebewohl durch den Schauspieler Martin Wuttke am Wiener Ballhausplatz uraufgeführt. Zudem beteiligte sie sich an Christoph Schlingensiefs Aktion Bitte liebt Österreich im Rahmen der Wiener Festwochen (2000), die auf die politischen Ereignisse in Österreich reagierte.[57]
Ihr Aufführungsverbot für staatliche Bühnen blieb bis zur Spielzeit 2002/2003 bestehen, bis zur Uraufführung von Das Werk am Wiener Burgtheater in der Regie von Nicolas Stemann. Zwar gab es bereits im Frühjahr 2000 Versuche, Jelinek für die Salzburger Festspiele 2001 zu gewinnen, was Jelinek jedoch ablehnte:
Das wird es nicht spielen. Solange diese Regierung im Amt ist, wird hier nichts von mir aufgeführt. Was Flimm macht, ist Spitzenkunst, Hochpreistheater von höchster Qualität – also genau das, was mich nicht interessiert. Mich interessiert das Ungesicherte, Gewagte. Repräsentationstheater saugt den politischen Protest auf, der jetzt nötig ist.[58]
Dass sie ihr Aufführungsverbot bereits im Jahr 2002 zurücknahm, begründete sie in einem in der Zeitschrift Format veröffentlichten Statement („Irgendwann schien mir dieses Verbot dann zu einer leeren Geste, einer Art Trotzhaltung erstarrt zu sein.“[59]). Ausschlaggebend für das Ende des Verbots war jedoch ein künstlerischer Aspekt, nämlich das Anliegen Einar Schleefs, Das Werk am Wiener Burgtheater uraufzuführen. Jelinek, die den Text ursprünglich für Schleef verfasst hatte, kam seinem Wunsch nach.[60] Aus einem undatierten Brief der Autorin an Schleef, den er in seinem Tagebuch zwischen den Einträgen vom 20.2. und 30.4.2001 einordnete, geht hervor, dass Jelinek selbst sich stark engagierte, um die Uraufführung am Burgtheater zu ermöglichen: „Ich habe von Bachler nichts gehört, werde aber Corinna Brocher auf ihn ansetzen, vielleicht wollen Sie ihn auch einmal anrufen, wenn es Ihnen bessergeht. Ich bin zu allem bereit und werde ihn auch gern treffen. Er hat sicher nichts Grundsätzliches gegen mich, will sogar 2 Lesungen mit Sachen von mir haben.“[61]
Schleef, der noch vor Probenbeginn verstarb, konnte das Stück in Wien nicht mehr inszenieren, so wurde es 2003 in der Regie von Nicolas Stemann am Wiener Burgtheater uraufgeführt. Das Wiener Burgtheater wurde in den folgenden Jahren zum wichtigsten Uraufführungshaus für Jelinek, ihre Theatertexte Bambiland (2003, I: Christoph Schlingensief), Babel (2005, I: Nicolas Stemann) und Über Tiere (2007, I: Ruedi Häusermann) wurden in Wien uraufgeführt.
Auch nach Ende des zweiten großen Aufführungsverbots sperrte Jelinek temporär einzelne Theatertexte für Österreich. Ihr Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) (2008, Münchner Kammerspiele) durfte zunächst nur als Gastspiel im Rahmen der Wiener Festwochen 2010 in Österreich gezeigt werden, bevor er 2012 im Schauspielhaus Graz zur österreichischen Erstaufführung gebracht wurde. Auch für ihren Theatertext Winterreise (2011, Münchner Kammerspiele) galt zunächst ein Aufführungsverbot,[62] das 2012 mit der Inszenierung durch Stefan Bachmann am Burgtheater Wien (Akademietheater) aufgehoben wurde.
Abschließend kann festgehalten werden, dass Jelineks Aufführungsverbote – sofern sie nicht für ihr gesamtes dramatisches Werk gültig sind – besonders jene Theatertexte betreffen, die für Österreich geltende Tabus aufgreifen. Dies führt zurück zu der zu Beginn dieses Beitrags angeführten Feststellung der Autorin: „Drei künstlerische Themen scheinen in Österreich besonders zensuranfällig: die katholische Kirche (in Österreich Staatsreligion), die Sexualität, linke, gesellschaftskritische Auffassungen.“[63] – Themen, die nach wie vor gesellschaftlich sanktioniert werden, und so auch zur künstlerischen Selbstzensur führen.
12.3.2014
Teresa Kovacs, Studium der Germanistik und der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Dissertationsvorhaben zu Elfriede Jelineks Konzept des „Sekundärdramas“. Forschungsprojekte zu Jelineks feministischen Arbeiten und Bezügen, 2011-2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt Elfriede Jelinek: Werk und Wirkung. Annotierte Bibliographie (gefördert vom FWF) am Institut für Germanistik der Universität Wien. Mitherausgeberin von „Die endlose Unschuldigkeit.“ Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ (2010) und Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief (2011). Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek. Texte - Kontexte - Rezeption.
Anmerkungen
[1] Kanzog, Klaus: Zensur. In: Braungart, Georg u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3: P-Z. Berlin: De Gruyter 2007, S. 891-894, S. 891.
[2] Vgl.: Ebd., S. 892.
[3] Vgl.: Ebd., S. 891.
[4] Vgl.: Zembylas, Tasos: Kunst oder Nichtkunst. Über Bedingungen und Instanzen ästhetischer Beurteilung. Wien: WUV-Univ.-Verlag 1997, S. 37.
[5] Berka, Walter: Die Grundrechte. Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich. Wien: Springer 1999, S. 350.
[6] Vgl.: VALIE EXPORT / Weibel, Peter (Hg.): Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film. Frankfurt am Main: Kohlkunstverlag 1970.
[7] Ausführlich widmet sich Oliver Rathkolb diesem Thema: Rathkolb, Oliver: Skandalisierungen von österreichischen Künstlerinnen im zeitgeschichtlichen Kontext. https://jelinektabu.univie.ac.at/sanktion/skandalisierung/oliver-rathkolb/ (19.2.2014) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
[8] Vgl.: Rathkolb, Oliver: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2010. Wien: Haymon Taschenbuch 2011, S. 49.
[9] Vgl.: Bentz, Oliver: Thomas Bernhard – Dichtung als Skandal. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 55.
[10] Vgl.: Weidermann, Volker: Kein Bachmann-Preis mehr. In: taz, 9.2.2000.
[11] Vgl.: Kanzog, Klaus: Zensur, S. 391.
[12] Jelinek, Elfriede: Über einen Fall von Zensur. In: Volksstimme, 29.1.1984.
[13] So schreibt beispielsweise Friederike Mayröcker, dass es in Österreich „keine (oder kaum) eine Literaturzensur“ gibt und Ernst Jandl antwortet im Rahmen der Umfrage, dass der Begriff „Zensur“ für ihn für Österreich nicht zutreffend zu sein scheint. (Vgl.: Haberland, Paul: Literary Censorship in Austria since 1945. Part Two: The Authors Speak. In: The Germanic Review 2/1990, S. 82-87.)
[14] Elfriede Jelinek in: Haberland, Paul: Literary Censorship in Austria since 1945. Part Two: The Authors Speak, S. 84.
[15] Vgl.: Janke, Pia: Stigmatisierung und Skandalisierung Elfriede Jelineks in Österreich. https://jelinektabu.univie.ac.at/sanktion/skandalisierung/pia-janke/ (19.2.2014) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
[16] Vgl.: Pfoser, Alfred / Pfoser-Schewig, Kristina / Renner, Gerhard (Hg.): Schnitzlers Reigen: zehn Dialoge und ihre Skandalgeschichte. Analysen und Dokumente. Bd. 1: Der Skandal. Frankfurt am Main : Fischer 1993.
[17] Vgl.: Gellert, Inge (Hg.): Massnehmen: Bertolt Brecht / Hanns Eislers Lehrstück Die Massnahme. Kontroverse. Berlin: Theater der Zeit 1998.
[18] Bartens, Gisela: „Das ist meine Lebenskatastrophe“. In: Kleine Zeitung, 18.12.1994.
[19] Vgl.: N. N.: Testament gegen Österreich. In: Kurier, 18.2.1989; N. N.: Thomas Bernhards letzte Bombe ist eine Österreich-Blockade/Wirbel über den Tod hinaus. In: Oberösterreichische Nachrichten, 18.2.1989; N. N.: Genau kalkuliert. In: Spiegel 9/1989; Praschl, Peter: Haß über den Tod hinaus. Stern 9/1989; Wolf, Gefion: Ein Toter rächt sich an Österreich. In: Abendzeitung München, 18.2.1989.
[20] Bernhard, Thomas: [184]. In: Fellinger, Raimund / Huber, Martin / Ketterer, Julia (Hg.): Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 265.
[21] Bernhard, Thomas: Verbot („Ich habe meinem deutschen Verleger...“). In: Die Presse, 9.11.1984.
[22] Bernhard, Thomas: [476; Briefpapier des Hotel Plaza Madrid]. In: Fellinger, Raimund / Huber, Martin / Ketterer, Julia (Hg.): Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, S. 712-714, S. 713.
[23] Vgl.: Dittmar, Jens (Hg.): Sehr gescherte Reaktion. Leserbrief-Schlachten um Thomas Bernhard. Wien: Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1993, S. 136.
[24] Vgl.: Unseld, Siegfried: [477; Anschrift: Wien]. In: Fellinger, Raimund / Huber, Martin / Ketterer, Julia (Hg.): Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, S. 715-722, S. 716.
[25] Herbert Moritz zitiert nach: Nenning, Günther: Ein Provinz-Banalist erster Klasse. In: Die Zeit, 5.3.1993.
[26] Vgl.: Bernhard, Thomas: [482]. In: Fellinger, Raimund / Huber, Martin / Ketterer, Julia (Hg.): Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, S. 725-727; sowie: Unseld, Siegfried: [484; Anschrift: Wien]. In: Fellinger, Raimund / Huber, Martin / Ketterer, Julia (Hg.): Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, S. 728-737.
[27] Bernhard, Thomas: [482], S. 728.
[28] Unseld, Siegfried: [477; Anschrift: Wien], S. 718.
[29] Vgl.: Unseld, Siegfried: [484; Anschrift: Wien]. In: Fellinger, Raimund / Huber, Martin / Ketterer, Julia (Hg.): Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, S. 728-737, S.730.
[30] Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München: Beck 2004, S. 11.
[31] Vgl.: Dittmar, Jens (Hg.): Sehr gescherte Reaktion. Leserbrief-Schlachten um Thomas Bernhard, S. 144-159 und S. 182-207.
[32] Vgl.: Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, S. 126.
[33] Fried, Erich u.a.: Kulturkampf! Eine Erklärung. In: Volksstimme, 18.10.1988.
[34] Löffler, Sigrid: Die Bestgehaßte handelt. In: Süddeutsche Zeitung, 9.4.1996.
[35] Sichrovsky, Heinz: Ich gebe auf. In: News, 5.11.1992.
[36] Ausführlich beschreibt Pia Janke die Skandalisierung der Uraufführung: Janke, Pia: Stigmatisierung und Skandalisierung Elfriede Jelineks in Österreich. https://jelinektabu.univie.ac.at/sanktion/skandalisierung/pia-janke/ (19.2.2014) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
[37] Bartens, Gisela: „Das ist meine Lebenskatastrophe“. In: Kleine Zeitung, 18.12.1994.
[38] Vgl.: Löffler, Sigrid: Vom Gefühl, am Pranger zu stehen. In: Die Woche, 15.12.1995; Panic, Ira: Demokratie – Farce à la Österreich. In: Hamburger Morgenpost, 2.11.1995; Unger, Karl: Mein Pessimismus ist wirklich grenzenlos. In: Die Wochenzeitung, 25.10.1996.
[39] Turrini, Peter: „Versuchte Existenz- und Menschenvernichtung“. In: Der Standard, 14.10.1995.
[40] Vgl.: Sichrovsky, Heinz: Die Emigrantin. In: News, 11.4.1996.
[41] Vgl.: Kroll, Frank-Lothar (Hg.): Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Emigration“. Göttingen: Wallstein 2012; Schnell, Ralf: Innere Emigration und kulturelle Dissidenz. In: Löwenthal, Richard / von der Mühlen, Patrick (Hg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945. Bonn: Dietz 1982, S. 211-225; Schnell, Ralf: Literarische Innere Emigration. 1933 bis 1945. Stuttgart: Metzler 1976.
[42] Vgl.: Carp, Stefanie: „Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Programmheft des Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl, 1996.
[43] Vgl.: Sichrovsky, Heinz: Im Fleischerladen Österreich. In: News, 4.4.1996; Demattia, Oswald: Den Hanseaten den „Stecken“ gegeben. In: Der Standard, 10.4.1996.
[44] Demattia, Oswald: Den Hanseaten den „Stecken“ geben. In: Der Standard, 10.4.1996.
[45] Vgl.: Reiter, Wolfgang: Triumph in Hamburg. In: Profil, 22.5.1996.
[46] Vgl.: Jelinek, Elfriede: Nummer sicher: SPÖ. In: News, 23.9.1999; Jelinek, Elfriede: o. T. In: profil, 27.9.1999.
[47] Jelinek, Elfriede: Es ist Zeit, eine Grenze zu ziehen. In: Falter 45/1999.
[48] elce: Bedrückt, besorgt, entsetzt. In: Der Standard, 22./23.1.2000.
[49] Vgl.: Worm, Alfred: Der Aufstand der Künstler. In: News, 3.2.2000.
[50] dpa: Jelinek möchte bei FPÖ-Regierung „nicht mehr in Österreich leben“. 28.1.2000.
[51] Vgl.: Jelinek, Elfriede: …eines Missverständnisses. In: Der Standard, 1.2.2000.
[52] Vgl.: Jelinek, Elfriede: Meine Art des Protests. In: Der Standard, 7.2.2000.
[53] Jelinek, Elfriede: Brief an Rita Thiele, Dramaturgin am Berliner Ensemble. In: Milena Verlag (Hg.): Die Sprache des Widerstandes ist alt wie die Welt und ihr Wunsch. Frauen in Österreich schreiben gegen rechts. Wien: Milena 2000, S. 61-62, S. 61.
[54] Jelinek, Elfriede: Brief an Rita Thiele, Dramaturgin am Berliner Ensemble, S. 61-62.
[55] Das Wiener Burgtheater etwa veranstaltete am 15.2.2000 eine Diskussion zur Frage „Gehen oder bleiben?“ mit Luc Bondy, Klaus Maria Brandauer, Andrea Breth, Andreas Kriegenburg, Bernhard Görg, Franz Morak, Thaddäus Ropac und Robert Menasse.
[56] Müller, André: Interview. In: Tagesspiegel, 11.6.2000.
[57] Für eine ausführliche Beschreibung von Jelineks Teilnahme an Kundgebungen und Demonstrationen in der Zeit zwischen 1999 und 2001 vgl.: Janke, Pia / Kaplan, Stefanie: Politisches und feministisches Engagement. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 9-20, S. 17.
[58] Stroh, A. / Kaindl, D.: Jelinek lehnt Salzburg-Angebot ab. In: News 9.3.2000.
[59] Jelinek, Elfriede: „Der Frosch in der Kehle“. In: Format, 24.10.2002.
[60] Vgl.: Kaindl, Dagmar / Sichrovsky, Heinz: Weltuntergang. „Die Worte sind längst verbraucht. Es ist sinnlos.“ In: News, 27.3.2003.
[61] Elfriede Jelinek zit. nach: Schleef, Einar: Tagebuch 1999-2001. Berlin, Wien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 328.
[62] Vgl.: apa: Elfriede Jelinek: Hypo-Stück mit Aufführungsverbot. diepresse.com/home/kultur/literatur/556672/Elfriede-Jelinek_HypoStueck-mit-Auffuehrungsverbot (10.2.2014).
[63] Elfriede Jelinek in: Haberland, Paul: Literary Censorship in Austria since 1945. Part Two: The Authors Speak, S. 84.
ZITIERWEISE
Kovacs, Teresa: Sanktion und Selbstzensur. Elfriede Jelineks Aufführungsverbote für Österreich. https://jelinektabu.univie.ac.at/sanktion/zensur/teresa-kovacs/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
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