Nachgelesen: Elfriede Jelineks Romane Die Klavierspielerin und Lust (2012) [1]
1. Elfriede Jelinek und die Pornodebatte
Elfriede Jelineks Romane Die Klavierspielerin und Lust, Gier, aber auch ihr Theaterstück Raststätte oder Sie machens alle: Sie standen unter Pornografieverdacht, wurden von Feuilleton und Literaturwissenschaft als Antiporno gleichsam rehabilitiert, sind in Hinblick auf Gewalt und Masochismus, in Bezug auf Macht und Weiblichkeit befragt, intensiv analysiert und diskutiert worden. Der Vorwurf, es handle sich bei diesen Texten um Pornografie, ist schon lange nicht mehr Gegenstand der Debatte. Die Kritik, wie sie im Band Elfriede Jelinek in der Geschlechterpresse dokumentiert ist, zeigt aber, wie heftig zum Teil die Reaktionen ausgefallen sind. So war in Bezug auf Die Klavierspielerin die Rede von „Perversionen der Liebe“[2], von einer „scheußlich[en]“ „Fallgeschichte“[3], von einer „frustrierten Pianistin“[4],oder der „Menschenverächterin“ [5], die Elfriede Jelinek sei. Es handle sich um ein „Huren-Schreiben“[6], um eine schwer zu ertragende, „verletzende“ [7] Lektüre. Anja Meyer machte in ihrer Studie auch sichtbar, dass ganz viele der Reaktionen auf eine Diffamierung der Autorin selbst abzielen, dass die Texte gern autobiografisch verstanden werden.
Für Lust liegen die Dinge – aufgrund einer veränderten Erwartungshaltung – etwas anders. Schon zwei Jahre vor Erscheinen als (weiblicher) Porno angekündigt, von Jelinek selbst als „Antiporno“ bezeichnet,[8] betritt der auch formal radikalere Roman ein Diskursfeld, das Lust – und vor allem den Skandal – erhofft. Allerdings hat Lust – und das ist wohl als literarisches Gelingen zu werten – enttäuscht, weil der Text nicht erfüllt, was der Titel verspricht.
Pornografie beinhaltet ein Versprechen, das – genreadäquat – erfüllt wird. Pornografie besteht einerseits in einem moralischen Tabubruch und andererseits darin, dass sie, neoliberal betrachtet, ökonomisch ausgezeichnet funktioniert: Sie verkauft etwas, das sehr viele KonsumentInnen haben wollen: Lust unter kontrollierten und mittlerweile sehr bequemen Bedingungen. Um veränderte Bedingungen literarischer und pornografischer Produktion und Rezeption, um gewonnene und verlorene Terrains aus feministischer Sicht und eine Relektüre von Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin und Lust angesichts veränderter medialer und ökonomischer Bedingungen, geht es in diesem Beitrag.
2. Wir sind Porno
Wenn wir heute über den Pornografie-Diskurs zu Elfriede Jelineks Schreiben verhandeln, dann unter deutlich anderen Voraussetzungen als vor zehn oder zwanzig Jahren. Unter der Überschrift Wir sind Porno[9] diskutiert die Wiener Stadtzeitung Falter gegenwärtig diese Entwicklungen. Der Befund ist so brisant wie erwartbar: Pornografie als zentrale Form der gesellschaftlichen Sexualisierung ist omnipräsent. Die Ursachen und Wirkungen dieses Phänomens sind sowohl weitreichender als auch komplexer, um sie auch nur in aller Kürze zu nennen. Die Autorinnen des Artikels diskutieren sie vom Offensichtlichsten ausgehend: von einer rasanten Zunahme sexistischer Werbung in den letzten zehn Jahren, die – meist unwidersprochen – verschiedenste Produkte (fast ausschließlich) mit Frauenkörpern verkauft.[10] Die Sujets beinhalten eine ganze Bandbreite an Szenen, Praktiken und Posen pornografischer Provenienz. Pornos selbst seien dabei, so Brodnig und Mittelstaedt, nur die Spitze eines Eisbergs. Die Verbreitung bestimmter Vorstellungen von „gutem“ Sex geschehe durch alle Medien. Zudem kreist ein riesiger Markt, der Segmente wie Gesundheitsliteratur, Wellness-Reisen, Kosmetikprodukte ebenso einschließt wie Sportartikel, Mode, Body-Art oder Sextoys, um die Erzählung vom jungen, gesunden, funktionierenden, makellos modellierten, geilen Körper und der Allgegenwart seines Sexus. Der Begriff „Pornografisierung“, englisch „pornification“, beschreibt diese Entwicklung: „The media immerses us in the pornographic aesthetic. Now integral to popular culture, porn is part of our everyday lives. Exploring music videos, alt porn sites, Cosmogirls and Gaydar online forums, H&M’s street advertising, retro pin-ups, film and educational sex videos alike, Pornification analyses the transformation of porn in today's media and its impact on our culture.“[11] So wie der Begriff hier skizziert ist, soll er auch in diesem Beitrag verstanden werden: als wertfreie Benennung des Phänomens.
JugendforscherInnen dokumentieren seit einigen Jahren eine deutliche Veränderung in Hinblick darauf, wie junge Menschen ihre eigene Sexualität entdecken und erfahren.[12] Konkrete Praktiken, wie sie im Pornofilm stattfinden, stehen dabei im Mittelpunkt deren Interesses. Kein Wunder, will man meinen, wird doch ein Großteil der, vor allem der männlichen, Jugend heute – oft ohne entsprechende Gesprächs- und Kontextualisierungsmöglichkeiten – durch Pornos „aufgeklärt“. Das Internet macht Pornografie für alle jederzeit zugänglich. Über youporn, das seit 2007 existiert, und andere Internetplattformen und -portale (wie Porn Tube), sind Pornovideos großteils kostenlos und ohne jede Alterslimitierung zu haben. Ein zentrales Konstituens von Pornografie – die Zensur – wird daher in der Praxis weitgehend unwirksam. Pornografie in Text und Bild diffundiert weiterhin in den Alltag. Die Bilderflut des Porno-Mainstream korreliert nur scheinbar mit einer Bildervielfalt: Wie limitiert der Sex ist, der hier gezeigt wird, ist für die KonsumentInnen vermutlich irrelevant oder möglicherweise genau in dieser Weise erwünscht. Sex in maximal 30 Minuten, in einer von rund 20 Kategorien, in jeweils mindestens fünf Stellungen, die im Wesentlichen der immer selben Dramaturgie und Choreographie folgen. Auch Amateurvideos, in denen die RezipientInnen auf ganz einfache Weise zu ProduzentInnen werden, folgen diesen wenigen Standardformen. Das Ende ist bei so gut wie allen exakt gleich: Die männliche Ejakulation als sichtbares Ergebnis des Sexualakts steht für die Authentizität der Lust und deren Befriedigung. Wenn das für einen dominanten Typus von Pornografie gilt, dann ist damit nicht gesagt, dass dies auch für andere Pornografien der Fall ist. Susan Sontag forderte in ihrem Essay Die pornographische Phantasie zu Recht die Verwendung des Plurals ein.[13] Hier ist im Weiteren die Rede von einem Mainstream-Heteroporno, der an konservativen Geschlechterstereotypen orientiert ist und daher männliche Dominanz sowie weibliche Subordination inszeniert.
Eine wesentliche Veränderung, die mit der skizzierten technischen und ökonomischen Entwicklung einhergeht, benennt Lukas Egli wie folgt: „Die gesellschaftliche Ächtung der Pornographie bleibt bestehen. Sie hat ihre Wirkung aber weitgehend verloren.“[14] Für die Branche heißt das: steigende Nachfrage und – entgegen anderslautender Behauptungen – wohl auch mehrheitlich ein finanzielles Plus. In Medienberichten ist von „sexueller Verwahrlosung“[15] die Rede, die Kirche kritisiert den Verfall der Moral. Dass sie das tut, rettet gleichsam den letzten Rest des Tabubruchs, der in Wahrheit keiner mehr ist.
Der simple Umstand, dass wir alle Pornografie konsumieren, sie ein wesentlicher Teil unserer Kultur ist, macht eine neue theoretische Auseinandersetzung notwendig. Seit einigen Jahren existieren daher auch Porn Studies[16]. Zugleich gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit Pornografie an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Theorie, wie die Ausstellung The Porn Identity in der Wiener Kunsthalle 2009 gezeigt hat. Hier wird eine Überschneidung oder Überlagerung der Felder angestrebt und ausprobiert: „Aus kunstbetrieblicher Sicht verhalten sich Pornografie und Kunst somit wie Schillers Naives und Sentimentalisches: wie das ästhetisch Ungebrochene zur künstlerisch-philosophisch gebrochenen Reflexion“[17], erklärt Florian Cramer in seiner Rezension zum gleichnamigen Ausstellungsband[18]. Während sich die einen um eine kritische und produktive Reflexion von Pornografie bemühen, die auch deren subversives Potenzial auslotet, verwehren sich andere gegen – tatsächlich oder vermeintlich – naive Perspektiven auf ein brutales Geschäft und eine radikale Veränderung unserer Gesellschaft und ihrer „Subjekte“ in Zeiten der Pornografisierung. Dass Pornografie auch als „Aufreger“ genützt wird, ist dabei nicht nur der Werbung vorbehalten: „Dem heutigen Kunstbetrieb ist Pornografie probates Vehikel, um den klassischen Konflikt von Ethik und Ästhetik, den zeitgenössische Kunst in ihrer zunehmenden Selbstbeschränkung auf systemeigene Ausstellungs- und Diskursorte nur noch selten zu mobilisieren vermag, zumindest unterschwellig zu entzünden und so Aufmerksamkeit zu erzeugen.“[19]
Tatsächlich lässt sich – analog zur wachsenden Pornografisierung – eine deutliche Proliferation der Arbeiten über Pornografie in Kunst und Theorie beobachten,[20] die zum Teil bekannte Argumente pro und kontra Pornografie aufgreifen und neu diskutieren, zum Teil neue Ansätze, wie etwa aus den Queer Studies, einbringen und oftmals dennoch in den bereits seit langem beschriebenen Markierungen und Begrenzungen des (Diskurs)Feldes kreisen, das im Wesentlichen eine Verhandlung von Moral, Freiheit, Individualität und Geschlechterverhältnissen ist. Dass es der Pornografie zuallererst um Sexualität zu tun ist, sei hier – nur ganz am Rande – in Frage gestellt.
3. Wenn Frauen Sex schreiben
In der Literatur von Frauen ist der Umgang mit Erotik, Sexualität immer eine besondere Herausforderung. Was seit den 1970er Jahren hinsichtlich des Zugangs von Frauen zu Pornografie diskutiert wird, ist bis heute aufgrund kaum veränderter Bedingungen weitgehend gültig: „Die Pornografie sagt etwas über das Wesen der Geschlechter aus, sie deutet, kritisiert und bewertet es. Doch sie tut dies bislang aus ausschliesslich männlicher Sicht, da bis heute die Männer den Markt der Pornografie beherrschen.“[21] Wie lässt sich für Autorinnen Sex schreiben, ohne patriarchale Bilder und einen männlichen Blick zu reproduzieren, und sich dabei nicht selbst einem voyeuristischen Blick auszusetzen, dabei eine dem Text, den Figuren adäquate Sprache zu finden und nicht über die Fallstricke schwülstiger Plattitüden zu stolpern? Diese Schwierigkeiten spiegeln sich auch in Texten von deutschsprachigen Autorinnen der 1990er Jahre, in denen erotische und sexuelle „Szenen“ oft nicht überzeugen konnten. Ulla Hahns Ein Mann im Haus (1991) ist dafür ebenso ein Beispiel wie Monika Marons Animal triste (1996). Alexandra Pontzen ortet im Unterschied zu der feministischen Literatur der 1970er Jahre
[…] statt offensiver Schamlosigkeit kalkulierte, kommerzialisierbare Entblößung. […] Dass Unterhaltungsliteratur von Frauen sexuelle Realien zum Thema macht, gilt als Nachweis literarischer Emanzipation; die Tatsache, dass die Protagonistinnen Sexualität im wesentlichen so erleben, wie es in Texten aus der Feder von Männern vorgezeichnet ist, begründet ihre und deren Glaubwürdigkeit; ihre formalästhetische Konventionalität macht sie kommensurabel.[22]
Inwiefern Sprache, Erzählperspektive, Dramaturgien und erotische bis pornografische Versatzstücke konventionellen Mustern folgen oder ironisch gebrochen sind, verdiente eine detaillierte Untersuchung; der Unterschied im Vergleich zur Literatur der „pornografischen Wende“ um die Jahrtausendwende ist schlagend und liegt gewiss in divergierenden literarischen Ansprüchen und Intentionen in Bezug auf Thematisierung und Darstellung des Sex begründet.
Pornografie ist in literarischen Texten der letzten zehn Jahre in neuer Weise Inspiration, Thema, Motiv und ästhetische Vorlage. Gerade zu Beginn des neuen Jahrtausends gab es eine erstaunliche Kulmination sexuell expliziter und auch deshalb provokanter Texte aus Frankreich. Einen Höhepunkt der medialen Aufregung erreichte Michel Houellebecq mit seinen Romanen Ausweitung der Kampfzone (1999), Elementarteilchen (2001) und Plattform (2001).[23] Auch sein Landsmann Frederic Beigbeder hat mit Neununddreißigneunzig (frz. 99 Francs) 2001 für Aufsehen gesorgt.[24]
Einen bemerkenswerten „turn“ hat die literarische Sexrevolte aber vor allem durch die französischen Autorinnen Christine Angot (Inzest, 2001), Nelly Arcan (Hure, 2002), Virginie Despentes (Baise-moi – Fick mich, 2002) und Catherine Millet (Das sexuelle Leben der Catherine M., 2001) erlebt.[25] Was die Debatte in all den genannten Fällen anheizte, war und ist das bewusste Spiel mit der Authentizität. Alle genannten AutorInnen suggerierten, dass sie in ihren Büchern Persönliches, Selbsterlebtes, authentische Erfahrung und wahre Meinung berichteten. Im Fall von Houellebecq führte das schließlich aufgrund rassistischer und islamfeindlicher Aussagen in Interviews zu einer Anklage vor einem französischen Gericht, die jedoch abgewiesen wurde. Catherine Millet betont unentwegt, dass sie authentische Erlebnisse dokumentiert habe und ähnlich ist auch Christine Angots und Nelly Arcans persönliche Geschichte in ihren Büchern auffindbar. Das „Pornografische“ in den genannten Romanen ist niemals nur Selbstzweck, sondern eingebunden in Prozesse der (Selbst)Reflexion.
3.1. Die pornografische Wende
Das anhaltend Provokante an Millets pornografischem Bekenntnisbuch ist, neben dem Anspruch auf Authentizität, der kühle, emotionslose Stil sowie der Umstand, dass es eine Autorin ist, die es verfasst hat. Auch, weil sich der Text etwas komplexer und spröder liest, als das für das „Einhand-Genre“ üblich ist, kann Das sexuelle Leben der Catherine M. nicht etwa als neue Josefine Mutzenbacher gelesen werden, deren – fiktive – Geschichten Pornoklassiker sind. Der wesentliche Unterschied ist auch, dass Millet keine Prostituierte, sondern Kunstexpertin und – immer noch – Chefredakteurin der Zeitschrift art press ist. Millet versucht etwas, das sonst Männern vorbehalten ist: als Frau über Sexualität zu sprechen, ohne zugleich das sexuelle Objekt zu sein, auch wenn sie sich, in allerlei sexuellen Spielarten, unterwirft und zum Objekt macht. Das Buch irritiert nachhaltig, war ein großer Verkaufserfolg und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Könnte hier etwas gelungen sein, von dem Elfriede Jelinek behauptete, es nicht vermocht zu haben – einen weiblichen Porno zu schreiben? Die Meinungen der Kritik sind geteilt: Das Buch wurde wegen seiner Schonungslosigkeit gelobt und als banal kritisiert, als feministisch gefeiert und als Ausdruck eines Antifeminismus gelesen.[26]
Was aber macht Bücher wie dieses zu Bestsellern? Ist es so, wie Simone Meier 2005 den Verkaufserfolg von Nelly Arcans Hörig erklärt?
Weil die Figur der Autorin so schön schillert, weil sie sich nicht schämt, jeden möglichen Kurzschluss von ihrer Literatur auf ihr Leben zuzulassen. Willkommen im ultimativen Voyeurismus. Vor allem aber, weil sich in der Literatur gerade nichts so gut verkauft wie das Schweigen der Gefühle und Sexualität als Fetisch. Im Fernsehen regieren derweil die puritanischen Puppen aus den Telenovelas. Kräftig nivelliert wird an beiden Orten. Die Kulturindustrie gebiert auf allen Seiten ausgehöhlte Klone. Und das ist eigentlich unglaublich.[27]
Man wird sich diesem Argument nicht ganz verschließen können. Dass manche Autorinnen ihre Bücher ausgerechnet über sexuelle Bilder und einen sexualisierten Zugriff auf ihre Person verkaufen, ist fatal. Zugleich erscheint die Strategie bei verschiedenen Autorinnen unterschiedlich angelegt – soweit sie darüber überhaupt Kontrolle haben. Die unsägliche „Fräuleinwunder“-Diktion[28] im deutschen Feuilleton in Bezug auf junge Autorinnen ist dafür ein Beispiel, dass sich ein Label trotz aller Einwände durchsetzt, weil es für tradierte Geschlechterstereotype „anschlussfähig“ ist.
4. Sex, Feminismus und Theorie
Gender- und KulturtheoretikerInnen üben sich in Differenzierung und Dekonstruktion. Die Antworten auf die Fragen der Pornografie werden keine eindeutigen sein können und jedes moralische und kulturpessimistische Argument verrät liberalen PostfeministInnen die konservative Sicht der Dinge. Jeder Text kann subversiv gelesen werden; in jeder noch so nachdrücklich eindimensional normierenden Literatur ist die „Abweichung“, das Andere mit eingeschrieben und daher auch lesbar. Das ist eine zentrale These, nicht nur der Queer Studies. Dass allerdings jedes Ding daher per se potenziell subversiv „ist“ – im Sinne einer Wirkmöglichkeit –, wird man kaum behaupten wollen.
Dass Frauen „pornografistisch“ schreiben, dass sie das provokant unverborgen tun, dass sie (ihre) Sexualität zum Gegenstand machen, sich sprachlich darüber verständigen und darin auch Perspektiven anbieten, die sich von jenen der normalisierten männlichen Blickökonomie (wenigstens partiell) abheben (wollen), lässt sich an dieser Stelle als Zwischenbefund festhalten und – optimistisch betrachtet – als Versuch werten, einen Ort weiblichen Sprechens über Sexualität zu finden, der mit dem Umstand, dass eine Autorin nicht selten mit der Geschichte, die sie schreibt, identifiziert wird, rechnet. Ebenso wie „die Autorin“ immer damit rechnen muss, dass ihr Schreiben nicht ernst genommen wird und dass sie sich dem Vorwurf aussetzt, der Falle patriarchaler Bilder und Fantasien nicht entronnen zu sein, sie bloß reproduziert zu haben. Es ist dies übrigens exakt dieselbe Kritik, mit der auch Elfriede Jelinek konfrontiert wurde. Dass diese Versuche, doch eine weibliche Subjektposition, einen Ort der Frau in der Sprache zu behaupten, auch scheitern können oder müssen, liegt in der „Natur“ und der Ordnung der Dinge.[29]
Wenn heute Andrea Roedig fragt, wo das Thema Sexualität in der Entwicklung des Feminismus geblieben sei, dann spiegelt sich darin die angesprochene Ratlosigkeit angesichts der komplexen Verschränkung vielfältiger Dimensionen und Entwicklungen in den vergangenen Jahren. Nicht nur hat sich das Geschlechterthema aufgrund der endgültigen Aufkündigung von eindeutigen (oder gar „natürlichen“) Geschlechtsidentitäten verkompliziert, es lässt sich ohne den Blick auf Funktionsweisen von Medien, auf (narrative) Bildproduktionen und insbesondere auf Ökonomie, nicht mehr seriös diskutieren. Zugleich ist die Verwobenheit all dieser Dimensionen in seinem Ausmaß schwer zu fassen, dass die Unentschiedenheit der Debatten beinah ein Signum der Gegenwart geworden ist, wenn sich nicht nur für TV-Serien wie Sex and the City nicht mehr ausmachen lasse, ob es sich um (feministische) Subversion oder Reproduktion von Rollenklischees handle[30]: „[D]er Unterschied ist nämlich nicht mehr so einfach auszumachen, und im Zweifel stimmt genau beides. Wo sich nicht so einfach sagen lässt, was Maskerade ist und was nicht, hat der Rigorismus keinen Platz mehr.“[31]
So streitet sich derzeit Charlotte Roche, deren Romane Feuchtgebiete und Schoßgebete, in denen alles gesagt wird, was „frau“ nicht sagt, sich ebenfalls außerordentlich gut verkaufen, öffentlich mit Alice Schwarzer um die Frage, welcher Feminismus der richtige sei.[32] Roedigs Konklusion hinsichtlich Sexualitäten und Geschlechterrollen erscheint paradox und trifft damit den Nagel auf den Kopf: „Die gegenwärtige Welt ist beides, liberaler und prüder geworden, homosexualisierter und heterosexueller, offener und konventioneller. Der Aufweichung der Geschlechterrollen auf der einen Seite entsprechen starke versichernde Inszenierungen der Geschlechterbilder als weiblich oder männlich auf der anderen.“[33] Die „Kunst“ besteht offenbar darin, die richtige Antwort auf die entscheidende Frage nach den Herrschaftsverhältnissen zu finden. Und hier zeigt sich immer wieder – einer Binsenweisheit gleich –, dass sich möglicherweise nicht so viel in Bezug auf die Ressourcenverteilung, die Handlungsfreiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten in der Geschlechterstruktur verändert hat, wie manche sich das wünschen und in ihrer „Komfortzone“[34] vormachen.
5. Elfriede Jelineks epistemologisches Projekt
Die Romane von Elfriede Jelinek in diesem kurz skizzierten Kontext einzuordnen, erscheint mir ganz ohne Schwierigkeiten möglich, allerdings nicht, ohne Gefahr zu laufen, die Dinge vielleicht gar zu kurz zu schließen. Jelinek hat, könnte man sagen, alles vorausgewusst, indem sie eine strukturelle Pornografisierung zu einem Zeitpunkt sichtbar macht, als sie noch nicht allen aufgefallen ist. Sie gibt nicht einfach Antworten auf „Pornografie“, bezieht nicht einfach eine Position dazu, sondern entwickelt ein epistemologisches Projekt, das uns zwar keine einfachen Methoden an die Hand gibt, Deutungsprobleme zu lösen und Wertungsentscheidungen zu treffen, aber ihre Texte helfen uns, einen Blick zu entwickeln, dafür, was ist.
5.1. Die Klavierspielerin
Wie bereits einleitend erwähnt, haben Die Klavierspielerin und Lust für einiges mediales Aufsehen gesorgt, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Klavierspielerin (1983) gilt als einer der zugänglicheren Texte in Jelineks Œuvre, ein Roman, der als „Roman“ lesbar ist, der Figuren, Figurenrede, Figurencharakterisierungen vorkommen lässt – wenngleich auch hier (psychoanalytische) Muster inszeniert werden und sich jede naive psychologisierende Lektüre verbietet.[35] Der Umstand, dass es sich um ein sadomasochistisches Szenario handelt, das an den drei zentralen ProtagonistInnen, Erika Kohut, ihrer Mutter und Erikas Schüler Walter Klemmer, durchexerziert wird – ein komplexes Dreieck der Abhängigkeit und Gewalt – regte auf; und das vor allem deshalb, weil eine Autorin darüber schreibt und die weibliche Hauptfigur auch noch Dinge tut, wie ins Sexkino und Porno-Shops zu gehen.
Die „Liebe“ wird als Trivialmythos[36] entlarvt, die Figuren werden als Typen kenntlich, als „Sozialcharakter“[37]. Im Unterschied zum davor erschienenen Roman Die Liebhaberinnen und dem nachfolgenden Roman Lust stehen die sozialen und ökonomischen Dimensionen der Geschlechterkonstellationen nicht im Vordergrund. Der Text lädt zur psychoanalytischen Lektüre ein: Erika Kohuts „Voyeurismus“, ihre sexuellen Fantasien, ihr Blick auf Männer, auf Pornos, bleibt daher oft in diesem Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen. Dazu kommt in der Rezeption der deutlich biografistische Zug in der Lesart des Textes als Psychopathologie der Autorin.
Die Begegnungen mit der Pornografie bzw. die pornografischen Fantasien werden in diesem Kontext gedeutet. Erikas Lust auf Pornografie ist nach dieser Lesart ein Symptom. Im besten Fall wird sie als emanzipatorischer Versuch gewertet, gleichsam den Blick zu wenden, als Voyeurin den Spieß männlicher Blickkontrolle zwar nicht umzukehren, aber wenigstens nicht gegen sich selbst zu wenden. Pornografie steht nach diesen Analysen im Kontext der Gewalt, die Erika erfährt und ausübt, steht für ihre Liebesunfähigkeit und die Unfähigkeit, „misogyne und patriarchale Muster“ [38] des Denkens zu überwinden.
Dass der Roman hingegen als Kritik an der Psychoanalyse lesbar wird, wurde und wird in der Literatur zuweilen vernachlässigt.[39] „Erika Kohut“ als Stimme, als Perspektive verstanden, würde dagegen sprechen, sie als „Person“ zu untersuchen. Jede Lesart, die Erika als gescheitert betrachtet, verkennt die Logik des Textes: Es ist nichts anderes als ein „Scheitern“ des weiblichen Subjekts möglich. Die Position der Frau ist eine, in einer sadomasochistischen Struktur – nicht qua einer Störung der analen Phase oder einer missglückten Mutterbindung, sondern weil die Frau keine Subjektposition hat. Daher erweist sich der Text auch „eigentümlich widerständig“ [40] gegenüber konventionellen psychoanalytischen Lektüren. Der Text dekonstruiere vielmehr, so Elizabeth Wright, „[…] die alte Metaphysik von Natur, Liebe und Sexualität.“[41]
Eine Lektüre des Text-Körpers kann dabei weit mehr auf Grundsätzliches rekurrieren, als eine Lektüre, die auf eine literarische Fall-Geschichte zielt. Erstere vermag nämlich zu zeigen, dass das Unbewusste nicht verdrängt werden kann, nicht einmal in einem Text, der die Gefangenschaft des Subjekts im Symbolischen (in der Ordnung der Sprache) zum Gegenstand hat – wie dies etwa bei einem Roman über eine Musiklehrerin nahezu programmatisch der Fall ist.[42]
Pornofilme sind eine Art distanzierter Konfrontation mit den Möglichkeiten des „Realen“ im Sinne Jacques Lacans. Wenn Wright festhält, dass es Jelinek genau darum gehe, die exzessive Gegenwart des Körpers zu erklären, dann geschieht dies immer in der Paradoxie der Schrift. In der symbolischen Ordnung hat das Reale keinen Platz, es ist das Unsprechbare, die Absenz.[43] Die Beschreibung davon, wie Erika Pornos sieht, wie sie Liebespaaren im Prater zusieht, wie sie den Körper nicht berührt, ist eine Art Doppelung dieses Ausschlusses: Der Körper ist exzessiv präsent und dennoch absent. Nichts macht das deutlicher, als die Inszenierung der Pornografie, in der jede Grenzüberschreitung vorgeführt wird, jeder Körper in jeder Pose, jede Körperöffnung weit offen sein kann und dennoch der symbolischen Ordnung nicht entgeht, weil die Körper immer schon Sprach- und Text-Körper sind. Und dennoch gebe es, so Wright, „Jouissance-Augenblicke“: in einem „Vergnügen an der Zersetzung körperlicher Substanzen.“[44] Poetische Sprache werde ihrer „normalen“ Ästhetik beraubt und „[…] nimmt statt dessen die Form einer psychotisch-ästhetischen Sprache an, in der Ekel Vergnügen macht.“[45] Die Körper, die Erika Kohut auf der Leinwand oder im Pratergras sieht, sind „[…] schadhaft, ihre Haut zeigt Flecken, Pickel, Narben, Runzeln, Schorf, Zellulitis, Fettwülste. Schlecht nachgefärbtes Haar. Schweiß. Schmutzige Füße.“[46] Im Text wird zwischen diesen Pornos, die schadhafte Körper zeigen, und „ästhetisch anspruchsvollen Filmen“ unterschieden. Es mag eine Qualität von Pornofilmen sein, diesen ungeschönten Blick zu erlauben, tatsächlich erlaubt die Pornoästhetik derlei Erscheinungen auch nur im Konzept bestimmter Kategorien, die als reizvolle Absonderlichkeiten inszeniert sind: ältere und fette Körper etwa sind eher ein Minderheitenprogramm. Pornografie hat in diesem Roman nicht die Funktion, die Verkommenheit oder Verzweiflung der Protagonistin zu illustrieren, sondern spiegelt die ausweglose Situierung des weiblichen Subjekts, dem im besten Fall die Lust am Abseitigen (der Pornografie) bleibt, in der sie in der Regel nur als Objekt vorkommt.
5.2. Lust
In Lust werden Motive aus Die Klavierspielerin, aber auch aus Die Liebhaberinnen, radikaler gewendet, gleichsam ins „Grundsätzliche“ der Pornografie verschoben: „Erotik [wird] als kulturelle Fiktion männlicher Prägung im Dienste gesellschaftlicher Machtkonstruktion […]“[47] verstanden und als Trivialmythos – ebenso wie Liebe oder Natur – inszeniert „[…] und bis in den materialen Bereich der Sprache hinein völlig destruiert.“[48]
Georges Batailles Geschichte des Auges ist eine zentrale Referenz dieses Romans. Allyson Fiddler hat in ihrer Analyse sehr überzeugend herausgearbeitet, wie sich Lust zu Batailles Text verhält. Ihre These ist, dass es sich bei Lust um ein Werk der Antipornografie handle, präziser, um einen Gegenentwurf zu Bataille, der allerdings nicht als Angriff zu lesen sei. Es gibt, so Fiddler, einige Parallelen, u. a. in Form „geborgter“ Zitate.[49] Sie zeigt, wie gegensätzlich die Richtungen der beiden Texte sind. Während bei Bataille das Obszöne eine Transgression im Sinne individueller Befreiung ermöglichen soll und daher auch Gewalt und Tod mit Sex verknüpft, durchschaut Jelinek diesen männlichen Anspruch und parodiert ihn in ihrem Text.[50] Auch in der Wahl der Bildlichkeit unterscheidet sich Lust: „Jelinek’s choice of imagery in general presents a deliberate reversal of Bataille’s pretentious allusions. Her favourite metaphor for sex is the much more down-to-earth one of auto-mechanical imagery.“[51] Die Mechanik-Bilder variieren – Auto, Züge, Baumaschinen – und sind mit anderen Bildbereichen – Tiere, Haushaltsgeräte, Möbel, Aborte, Sport u. a. verbunden: „Der Direktor hat seine Frau jetzt genug in die Röhre gefickt, jetzt schaut er vor sich hin, sieht sich an und dreht, ganz liebenswürdiger Fremder, der sich über einen Motor beugt, den’s nicht mehr umhertreibt, an seinem Haustier herum.“[52]
Selbst die biblischen Bezüge bilden keine „high-class symbols“, die die intellektuelle Pornografie à la Bataille auszeichnet: „Die Frau springt, verlegen mit ihrem Körper rudernd, in den Wind hinein. Sie ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet. Dem Hunger in jeder Hinsicht dienlich sein, das ist ihre Gassenschank gewesen: sich für den Mann, das Kind abnutzen lassen, gebettet in deren sanfte Zügel.“[53]
Es ist genau diese Spracharbeit, in der ununterbrochen komplexe Metaphern und Allusionen gerade noch die konventionelle Rede erkennen lassen und das darin stets Unausgesprochene heraushämmern. Die Position der Erzählerin, besser der Erzählstimme, ist dabei anders als in den oben genannten Romanen von Catherine Millet und anderen konzipiert. Die Stimme, die sich an die LeserInnen wendet, ist gewiss kein personales „Ich“, das mit der Autorin verwechselt werden könnte: „Haben Sie noch immer Lust zu lesen und zu leben? Nein? Na also.“[54]
Elfriede Jelinek macht etwas anderes als jene Autorinnen, die sich auf das Spiel mit der Authentizität einlassen und sich so einem Diskurs aussetzen, der wieder nichts anderes sehen will, als die sexualisierte Frau. Jelinek schreibt im Wissen darüber, dass es Frauen nicht möglich ist, ihr „eigenes“ Begehren auszudrücken oder auch nur zu haben. Während zahlreiche Autorinnen männliches erotisches oder pornografisches Schreiben imitieren, um durch die Adaption des männlichen Blicks in der symbolischen Ordnung vorzukommen, zielt Jelinek auf die Herausforderung der Sprache selbst.[55] Allyson Fiddlers Schlussfolgerung ist daher auch, dass Lust einige der wichtigsten intellektuellen Mythen und Ideen, auf denen Batailles Erotizismus basiert, diskreditiere.[56]
Versteht man Jelineks „Roman“ als politische Spracharbeit, relativieren sich andere Einschätzungen. Wenn etwa Alexandra Pontzen konstatiert, dass Jelineks Texten ein Verständnis von Sexualität unterlegt sei, das sie mit Penetration „als per se gewalttätigen Akt“[57] gleichsetze, dann übersieht sie nicht nur die Parodie des Genres, sondern auch, wofür „Sexualität“ steht und dass sie mit den Diskursfeldern Arbeit und Ökonomie eng verknüpft ist. Es geht nicht um eine wie immer geartete „positive“ Erzählung von Sexualität, wie sie gleichsam der männlichen Dominanz – trotzdem – abgerungen werden soll. Die Vorstellung, dass irgendwo in diesem Text erklärt wird, Sexualität werde individuell auch von Frauen lustvoll gelebt, mutet absurd an. Lust allein als masochistische Frauenfantasie zu lesen, wie das Jutta Osinski[58] tut, verweigert sich ebenso der Komplexität des Textes, im Versuch, gleichsam auf einen Schlag eine Antwort zu finden, eine Vereindeutigung.
Auch die Gegenposition, wonach Jelineks literarische Reflexion von Sexualität eine Darstellung von (sexueller) Gewalt gegen Frauen sei, trifft nicht das, was Jelinek demonstriert. Oft rückgekoppelt an die Biografie der Autorin werden die Texte immer wieder als Ausdruck persönlicher „Probleme“ oder gar als Psychopathologien gelesen und weder in ihrer ästhetischen Dimension gewürdigt noch in der Brisanz ihrer politischen Kritik ernst genommen.
Elfriede Jelinek decouvriert sowohl in Die Klavierspielerin als auch in Lust geschlechtliche, sexuelle, ökonomische, soziale Machtverhältnisse, die sich in der Pornografie spiegeln und von dort aus als Pornografisierung gleichsam zurück- und weiterwirken. In diesem poetisch-epistemologischen Projekt zeigt sie, dass die Verwobenheit all jener Dimensionen einer Mainstream-Pornografie, deren Sozialstrukturen und Ästhetiken omnipräsent sind und sonst getrennt verhandelt werden, unhintergehbar ist.
6. Resümee
Die Entwicklung der Pornografie zu dem, was heute als Pornografisierung der Gesellschaft diskutiert wird, ist ein komplexes Phänomen, das ohne die Reflexion ökonomischer, politischer und sozialer Entwicklungen in den letzten zwanzig oder mehr Jahren nicht fassbar wird. In Bezug auf das Verhältnis von Pornografie und Literatur ist gerade angesichts dieser, als Kulturverfall und Bedrohung von gesellschaftlichen Errungenschaften aller Art beurteilten Entwicklung abseits der traditionellen Debatten über Genregrenzen und künstlerischen Anspruch wichtig, die Vielfalt der Pornografien im Blick zu behalten.[59] Trotz eines sehr dominanten Heteroporno-Mainstreams, der durch das Internet massenhafte Verbreitung findet und längst „besondere“ Spielarten wie sadomasochistische und homosexuelle Praktiken in männerdominanten Dramaturgien vereinnahmt hat, gibt es künstlerische Pornografie, die ästhetische wie geschlechtliche Normierungen transgrediert. Dieser Beitrag erörtert nicht Pornografie als Genre, sondern knüpft an den gegenwärtigen Befund einer gesellschaftlichen Pornografisierung an. Was genau die Konsequenzen dieses Phänomens sind, versuchen zahlreiche Arbeiten zum Thema zu klären. Für diesen Beitrag ging es darum, Elfriede Jelineks Romane Die Klavierspielerin und vor allem Lust im Kontext dieser Entwicklung wieder zu lesen. Dass hier keine Pornografie im engeren Sinn vorliegt, ist längst geklärt, auch die vielfältigen Aspekte in Bezug auf u. a. Sprache, Bildlichkeit, Intertextualität der Texte wurden ausführlich analysiert.[60] Es ist keine neue Interpretation oder Neubewertung der Texte als Ergebnis festzuhalten, sondern die ungebrochene Radikalität von Jelineks poetisch-epistemologischem Projekt, das über bloße Parodie von pornografischen Elementen oder Ironisierung von Trivialmythen weit hinaus geht, indem sie u. a. das Pornografische der alltäglichen Rede zeigt, die Ökonomie von Geschlechterbeziehungen decouvriert, die Materialität (post)faschistischer Ideologie aufdeckt – und all das als einen Komplex kenntlich macht. Jelineks Lust zeigt sich immer noch, und gerade jetzt, als hochaktuelle und bestechend präzise poetische Analyse dessen, was gegenwärtig unter dem Stichwort „Pornografisierung“ diskutiert wird.
14.2.2014
Susanne Hochreiter ist Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Sie studierte Germanistik, Philosophie/Psychologie/Pädagogik in Wien und Berlin. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Literatur von Frauen, Gender und Queer Studies sowie Hochschuldidaktik. Publikationen (Auswahl): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen (Co-Herausgeberin, 2008), Schnittstellen. Aspekte der Literaturlehr- und lernforschung (Co-Herausgeberin, 2009), Queere Lektüren. Queer Theory und deutschsprachige Literatur/Wissenschaft (2010).
Anmerkungen
[1] Hochreiter, Susanne: Die „Lust“ in den Zeiten der Pornografisierung. Nachgelesen: Elfriede Jelineks Romane „Die Klavierspielerin“ und „Lust“. In: Kaplan, Stefanie (Hg.): „Die Frau hat keinen Ort“. Elfriede Jelineks feministische Bezüge. Wien: Praesens Verlag 2012 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 9), S. 136-151.
[2] Meyer, Anja: Elfriede Jelinek in der Geschlechterpresse. „Die Klavierspielerin“ und „Lust“ im printmedialen Diskurs. Hildesheim: Olms-Weidmann 1994, S. 84.
[3] Ebd., S. 85.
[4] Ebd., S. 85.
[5] Ebd., S. 87.
[6] Ebd., S. 89.
[7] Ebd., S. 108.
[8] Vgl.: Ebd., S. 119.
[9] Brodnig, Ingrid / Mittelstaedt, Katharina: Wir sind Porno! In: Falter 38/2011.
[10] Gelegentlich lassen sich damit auch Schlagzeilen machen, vgl.: N. N.: Werberat alamiert: Gewalt und Sexismus in der Werbung 2005 deutlich angestiegen. http://www.news.at/articles/0615/30/137751/werberat-gewalt-sexismus-werbung-2005 (1.10.2011).
[11] Paasonen, Susanna / Nikunen, Kaarina / Saarenmaa, Laura (Hg.): Pornification: Sex and Sexuality in Media Culture. Bloomsbury: Berg 2007. (Klappentext). Andere Publikationen, die sich – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven – mit dem Phänomen befassen: Paul, Pamela: Pornified: How Pornography Is Damaging Our Lives, Our Relationships, and Our Families. New York: Times Books 2005. Als ein Beispiel für zahlreiche Aufsätze: Mulholland, Monique: When Porno Meets Hetero. In: Australian Feminist Studies 67 (2011), S. 119-135. Nicht wenige Bücher kommen aus dem extrem konservativen Lager, wie etwa das Buch der Abtreibungsgegnerin Melinda Tankard Reist: Big Porn Inc: Exposing the harms of the global pornography industry. <st1:place w:st="on">North Melbourne</st1:place>: Spinifex Press 2011.
[12] Vgl.: Papadopoulos, Linda: Sexualisation of Young People Review. www.homeoffice.gov.uk/documents/Sexualisation-young-people (1.10.2011).
[13] Vgl.: Sontag, Susan: Die pornographische Phantasie. In: Kunst und Antikunst. München: Hanser 1980, S. 39-74, S. 39.
[14] Egli, Lukas: Jeder ein Pornostar. www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/c486e882-ffda-4dd9-83e3-23b8a754da40.aspx (1.10.2011).
[15] Reimann, Anna: Sexuell verwahrlost statt aufgeklärt. www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,466334,00.html (1.10.2011).
[16] Vgl.: Williams, Linda: Porn Studies. Durham: Duke University Press 2004; Boyle, Karen (Hg.): Everyday pornography. London: Routledge 2010.
[17] Cramer, Florian: The Porn Supremacy. www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/837/838 (1.10.2011).
[18] Vgl.: Ballhausen, Thomas / Edlinger, Thomas / Henschel, Linda / Zakrawsky, Katherina (Hg.): The Porn Identity. Expeditionen in die Dunkelzone. Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2009.
[19] Cramer, Florian: The Porn Supremacy.
[20] Stellvertretend können hier genannt werden: vgl.: Henschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. Marburg: Jonas 2001; Grenzfurthner, Johannes / Friesinger, Günther / Fabry, Daniel (Hg.): prOnnovation? – Pornography and Technological Innovation. San Francisco: ReSearch Publications 2008.
[21] Jurgensen, Manfred: Beschwörung und Erlösung. Zur literarischen Pornografie. Bern: Peter Lang 1985, S. 40.
[22] Pontzen, Alexandra: Beredte Scham. Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Gruber, Bettina / Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. S. 21-40, S. 25.
[23] Die Daten beziehen sich auf das Erscheinen der jeweiligen deutschsprachigen Übersetzung.
[24] Nicht zuletzt ebenso kontroversiell diskutierte Filme wie Virginie Despentes Baise moi (2000), Intimacy (2001), Catherine Breillats Romance (1999), Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999), oder auch Shortbus (2006) eröffnen nicht nur einen anderen Blick auf die oft moralisch eng geführte Porno-Debatte, sondern loten Räume für alternativen „Porno“ aus, indem einerseits die Handlungsmacht der Geschlechter verhandelt wird, andererseits narrative Muster – in jede Richtung – erweitert werden.
[25] Die Daten beziehen sich auf das Erscheinen der jeweiligen deutschsprachigen Übersetzung.
[26] Vgl. z.B.: Kralicek, Wolfgang: Rezension. In: Falter 41/2001; Domsch, Sebastian: Riss im Damm. Catherine Millets Skandalbuch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ auf CD. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13826 (1.10.2011).
[27] Meier, Simone: Die Kulturindustrie und ihre Klone. www.zeit.de/2005/42/L-Wolfe (4.10.2011).
[28] Volker Hage hatte den Begriff in einem Spiegel-Artikel (Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel 12/1999) für die Literatur junger Autorinnen übernommen.
[29] Sehr vertraut klingt da der Befund von Alexandra Pontzen: „Einerseits werden die feministischen Texte der siebziger Jahre als geschmacklose ,Schamlippenpoetisierung‘ diffamiert und vom literarischen Kanon ignoriert wie peinliche Entgleisungen, die auch die feministische Literaturwissenschaft wie ,ethnographische‘ Marginalien behandelt. Das gewollt Schamlose zum unfreiwillig Geschmacklosen hin zu verschieben, entschärft das politisch-gesellschaftliche Anliegen zu einem subjektiv-ästhetischen, das zudem, wirkungsgeschichtlich scheitert.“ Pontzen, Alexandra: Beredte Scham, S. 24.
[30] Vgl.: Roedig, Andrea: Workout für die Klitoris. In: Der Standard/Album, 1.10.2011.
[31] Ebd.
[32] Vgl.: N. N.: Charlotte Roche geht auf Alice Schwarzer los. www.welt.de/kultur/literarischewelt/article13565397/Charlotte-Roche-geht-auf-Alice-Schwarzer-los.html (1.10.2011)
[33] Roedig, Andrea: Workout für die Klitoris.
[34] Mika, Bascha: Die Feigheit der Frauen. Rollenfallen und Geiselmentalität. München: C. Bertelsmann 2011, S. 173-208.
[35] Vgl.: Janz, Marlies: Elfriede Jelinek. Stuttgart: Metzler 1995, S. 71.
[36] Vgl. Fischer, Michael: Trivialmythen in Elfriede Jelineks Romanen „Die Liebhaberinnen“ und „Die Klavierspielerin“. St. Ingbert: Röhrig 1991; Brunner, Maria E.: Die Mythenzertrümmerung der Elfriede Jelinek. Neuried: ars una 1997.
[37] Janz, Marlies: Elfriede Jelinek, S. 73.
[38] Ebd., S. 84.
[39] Vgl.: Ebd.
[40] Wright, Elizabeth: Eine Ästhetik des Ekels. Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“. In: Elfriede Jelinek. Text + Kritik 117 (1999). 2. erweiterte Auflage, S. 83-91, S. 83.
[41] Ebd., S. 85.
[42] Ebd.
[43] Vgl.: Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant 2002, S. 250-253, S.250.
[44] Wright, Elizabeth: Eine Ästhetik des Ekels, S. 87.
[45] Ebd.
[46] Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Reinbek: Rowohlt 1986. S. 109.
[47] Pontzen, Alexandra: Beredte Scham, S. 28.
[48] Luserke, Matthias: Ästhetik des Obszönen. In: Elfriede Jelinek. Text + Kritik 117 (1999). 2. erweiterte Auflage, S. 92-99, S. 94.
[49] Vgl.: Fiddler, Allyson: Problems with Porn. Situating Elfriede Jelinek’s „Lust“. In: German Life & Letters 5/1991, S. 407.
[50] Vgl.: Ebd., S. 408.
[51] Ebd., S. 410.
[52] Jelinek, Elfriede: Lust. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 151.
[53] Ebd., S. 59.
[54] Ebd., S. 170.
[55] Vgl. Fiddler, Allyson: Problems with Porn, S. 412.
[56] Ebd., S. 413.
[57] Pontzen, Alexandra: Beredte Scham, S. 31.
[58] Osinski, Jutta: Satire auf einen Porno. „Lust“ von Elfriede Jelinek. In: Kalkuhl, Christina / Solms, Wilhelm (Hg.): Lustfallen. Erotisches Schreiben von Frauen. Bielefeld: Aisthesis 2003. S. 41-44.
[59] Vgl. Sontag, Susan: Die pornographische Phantasie, S. 39.
[60] Als Beispiele seien stellvertretend für eine Fülle von Arbeiten genannt: vgl.: Johns, Jorun B. / Arens, Katherine (Hg.): Elfriede Jelinek: Framed by Language. Riverside, CA: Ariadne Press 1994; Schlich, Jutta: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur. Am Beispiel von Elfriede Jelineks „Lust“ (1989). Tübingen: Niemeyer 1994.
ZITIERWEISE
Hochreiter, Susanne: Die „Lust“ in den Zeiten der Pornografisierung. Nachgelesen: Elfriede Jelineks Romane „Die Klavierspielerin“ und „Lust“.https://jelinektabu.univie.ac.at/moral/sexualitaet/susanne-hochreiter/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
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