Logo der Universität Wien

Monika Szczepaniak, Rita Svandrlik, Brigitte Jirku, Herwig Weber

Die Rezeption der sexuellen Tabubrüche in Jelineks Werk in Polen,
Italien, Spanien und Mexiko
14 Fragen an internationale ExpertInnen

Sexualität, Familie und Religion

Vier Internationale PartnerInnen der Forschungsplattform Elfriede Jelinek aus lange Zeit katholisch geprägten Ländern geben Antwort auf Fragen zur Rezeption der sexuellen Tabubrüche in Jelineks Werk im jeweiligen Land und weisen damit neue Perspektiven für die interkulturelle Forschung.


Die teilnehmenden WissenschafterInnen:

POLEN
Monika Szczepaniak

Professorin an der Universität Bydgoszcz. Studium an den Universitäten Rzeszów und Wroclaw, Auslandsaufenthalte u.a. an der Pädagogischen Hochschule Erfurt, den Universitäten Hamburg, Berlin, Bielefeld und Wien. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts, Elfriede Jelinek, kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, Gender Studies, Männlichkeitskonstruktionen, textuelle und visuelle Repräsentationsformen der Liebe.

ITALIEN
Rita Svandrlik
Professorin für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Florenz. Buchveröffentlichungen zu Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek und zu mythischen Weiblichkeitskonstruktionen; mehrere Aufsätze zu Marlen Haushofer und zu Franz Grillparzer sowie zur Wiener Theatergeschichte, zu den Autorinnen der Wiener Moderne, zu Adalbert Stifter, Robert Musil, Bettina von Arnim und Hannah Arendt.

SPANIEN
Brigitte Jirku
Professorin für Germanistik an der Universitat de València. Gastdozenturen und Forschungsaufenthalte: u.a. an der Universität Wien, Justus-Liebig-Universität Giessen, Universität des Saarlandes, Albrecht Ludwigs Universität Freiburg, Universität Bern, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Universität Bremen, Berlin, Pennsylvania (EEUU). Forschungsschwerpunkte: Repräsentation von Gender, Gegenwartsdrama, besonders Dramatikerinnen.

MEXIKO
Herwig Weber
Komparatist und Übersetzer. Dozent in Mexiko City an der Geisteswissenschaftlichen Abteilung der Universidad del Claustro de Sor Juana und an der Fakultät für Philosophie und Literatur der Universidad Nacional Autónoma de México. Zuvor war er Österreichlektor an letzterer. Forschungsschwerpunkte: Rezeption europäischer Philosophie und Literatur in Lateinamerika.
Der Fragenkatalog wurde unter Mithilfe von 80 Befragten (Studenten und Studentinnen der Universidad del Claustro de Sor Juana und der Facultad de Filosofía y Letras der UNAM, Mexiko) beantwortet.


DIE FRAGEN ZU SEXUALITÄT, FAMILIE UND RELIGION:

1. Wie werden die Frauen- und Familienbilder bzw. die Darstellung häuslicher Gewalt in Jelineks Werken in Ihrem Land wahrgenommen, und warum ist das so?

Monika Szczepaniak (Polen)
Diese Problematik wurde durch verschiedene Interpretationsgemeinschaften unterschiedlich wahrgenommen. Die einen reagierten mit Entrüstung und sprachen vom Verstoß gegen die „heiligen“ Normen und Traditionen auf solchen Gebieten wie der Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft oder der Sexualmoral, die anderen sahen in Jelineks Strategie der Dekonstruktion von alltäglichen Vorstellungen und Mythen eine kultur- und gesellschaftskritische Analyse, die einen Anlass zum kritischen Nachdenken bietet. Der Warum-Frage nachzugehen, könnte ein großangelegtes soziologisch orientiertes Forschungsprogramm füllen – die Antwort ist hier gar nicht zu leisten.

Rita Svandrlik (Italien)
Wie auch die Debatte um den Fall Fritzl gezeigt hat, kann man hier und dort die Tendenz feststellen, die Darstellung der Gewalt in der Familie als spezifisch österreichisch zu sehen - ein Versuch der Verdrängung, der in den letzten Jahren, im Zuge der Thematisierung des "femminicidio" (Ermordung von Frauen durch den Ehemann, den Geliebten oder den abgewiesenen Mann) kaum noch möglich ist.

Brigitte Jirku (Spanien)
Siehe Frage 2 im Bereich Tabu und Sanktion.

Herwig Weber (Mexiko)
Elfriede Jelinek schreibe „nicht über Frauen, sondern über die Vorstellungen (Bilder), die sie repräsentieren, die sie genießen und unter denen sie leiden.“[1], so ein Kritiker. Sie beschreibe „immer und immer wieder die selben Obsessionen: den unbarmherzigen Kapitalismus, die Sexualität als Knechtschaft, den Mann als Wolf der Frau.“[2]


2.
Welche Rolle spielt der Katholizismus in der Bewertung einer Literatur wie der von Elfriede Jelinek in Ihrem Land?

Monika Szczepaniak (Polen)
Das ist eine komplexe Fragestellung, die nach einer tiefgreifenden Analyse verlangt – vielleicht ein Thema für eine Dissertation.

Rita Svandrlik (Italien)
Hierzu muss ich anmerken, dass der Katholizismus in Italien doch keine so große Rolle spielt, wie vielleicht allgemein vorausgesetzt wird  (vielleicht auch in diesem Fragebogen).

Brigitte Jirku (Spanien)

Die katholische Kirche Spaniens ist sich wohl bewusst, dass Literatur in Spanien nicht die gesellschaftliche Tragweite hat wie in Österreich.

Herwig Weber (Mexiko)
Mexiko wird als „katholisches Land“ tituliert, was sicherlich stimmt. Viele Aspekte des täglichen Lebens sind vom Katholizismus durchdrungen. Die Vielfalt der sozialen Lebensbedingungen, der sich ausbreitende Neoliberalismus (siehe Antwort zur Frage 4 im Bereich Übersetzung und Rezeption) und die große Bevölkerungsanzahl bringen es aber mit sich, dass in breiten Bevölkerungsschichten der Katholizismus keine Rolle oder nur mehr die Rolle des thematischen Reibebaums spielt. Auch in Mexiko hat die Denkart gerade einer breiten, bildungsnahen Schicht nicht (mehr viel) mit Religion in einem herkömmlichen Sinne zu tun. Es sind auch naturgemäß vor allem Mitglieder dieser Schicht, die europäische Literatur konsumieren – daher meine ich, dass der Katholizismus in der Bewertung der Literatur der Nobelpreisträgerin in Mexiko nur eine untergeordnete bis nicht wahrnehmbare Rolle spielt.
Wenn in Mexiko eine Verbindung zwischen (der Literatur) von Elfriede Jelinek und dem Katholizismus hergestellt wird, so passiert dies etwa in simplifizierend wirkender psychologischer, aufklärerischer Absicht. Etwa wird das vierte, „katholische Gebot“[3] als Ursache für „psychische Probleme“[4] aufgrund einer „Repression von Gefühlen“[5] dargestellt, auf die der menschliche Körper mit Krankheit reagiert, und von dieser Logik ausgehend, auf mögliche Bewusstseinszustände der Autorin selbst und auf die Ursachen der Konstitution ihrer Werke geschlossen.


3. Gab es konkrete Reaktionen von Seiten bestimmter Gruppierungen oder der Kirche Ihres Landes auf Jelineks Texte, vor allem, was ihre Darstellung von Sexualität betrifft?

Monika Szczepaniak (Polen)
Ich kenne keine organisierten Reaktionen von Gruppierungen oder Institutionen auf Jelineks Texte. Es gibt nur Informationen und Besprechungen in den Medien, auf die die einzelnen LeserInnen im Leseforum reagieren, oft sehr emotional und entweder enthusiastisch oder extrem kritisch. Die kritischen Stimmen klagen über die Brutalisierung der Sexualität, die als „von Liebe getrennt“, „mechanistisch“ oder „obszön“ beschrieben wird. Häufig begegnet man dem Urteil, dass Jelineks Texte den Körper zu einer für bloßen Verkauf bestimmte Ware verkommen lassen bzw. dass man in ihnen höhere moralische und ästhetische Wertung der körperlich-intimen Aspekte vermisst.

Rita Svandrlik (Italien)
Elfriede Jelinek hat keinen so großen Bekanntheitsgrad, dass sich die Kirche, die durchaus eine kaum zu überschätzende Rolle im öffentlichen Leben spielt, damit abgeben würde.

Brigitte Jirku (Spanien)
Die Frage setzt eine ganz bestimmte Rezeption voraus, die in Spanien nicht stattfindet.

Herwig Weber (Mexiko)
Davon ist (mir) nichts bekannt.

19.11.2013

DIE WEITEREN ANTWORTEN:


Anmerkungen:


[1] Lemus, Rafael: Estereotipos feministas. „La muerte y la doncella I-V“ de Elfriede Jelinek. In: Letras libres 10/2008, S. 97. (Ü: Herwig Weber)

[2] Ebd., S. 97. (Ü: Herwig Weber)

[3] Moreno, Fernando: Elfriede Jelinek y el 4to mandamiento católico. In: La Jirafa ( Suplemento cultural del diario regional de Zapotlán), 18.7.2011. (Ü: Herwig Weber)

[4] Ebd. (Ü: Herwig Weber)

[5] Ebd. (Ü: Herwig Weber)

 


ZITIERWEISE
Szczepaniak, Monika / Svandrlik, Rita / Jirku, Brigitte / Weber, Herwig: Die Rezeption der sexuellen Tabubrüche in Jelineks Werk in Polen, Italien, Spanien und Mexiko. Sexualität, Familie und Religion. https://jelinektabu.univie.ac.at/moral/sexualitaet/14-fragen-sexualitaet-familie-und-religion/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).

Forschungsplattform
Elfriede Jelinek
Texte - Kontexte - Rezeption
Universität Wien

Universitätsring 1
1010 Wien

T: +43-1-4277-25501
F: +43-1-4277-25501
E-Mail
Universität Wien | Universitätsring 1 | 1010 Wien | T +43-1-4277-0