Eva Hausbacher
Überlegungen zum Prostitutionssujet in der zeitgenössischen russischen Literatur von Frauen
„Die Prostitution ist eine zentrale Figur der russischen Kultur. Sie ist Metapher für das traditionell als weiblich verstandene Rußland und dient den Medien und der Literatur täglich dazu, eine russische Identität zu schaffen.“[1] Dieser dramatische Befund zur allgegenwärtigen Rolle der Prostituierten in der russischen Kultur von Eliot Borenstein spiegelt sich auch in den Untersuchungen der Innsbrucker Slawistin Andrea Zink,[2] die für die Literatur des 19. Jahrhunderts von einer „russischen Linie“ der Prostitutionsdarstellung spricht und aufzeigt, dass – anders als in westeuropäischen Literaturen – in der russischen ein stark moralisierender, ja sogar verklärender Umgang mit dem Thema der Prostitution dominiert. Die zahlreichen „gefallenen Frauen“ der russischen Weltliteratur – immerhin sprechen wir von Autoren wie Gogol‘, Cernyševskij, Nekrasov, Dostevskij, Tolstoj und Cechov[3] – werden nicht über Sinnlichkeit und Erotik definiert, sondern sind meist bemitleidenswerte Mädchen, die nur durch widrige Umstände auf die schiefe Bahn geraten sind. Sie sind weniger als individuelle Figuren gezeichnet, denn als Verkörperungen eines moralischen Dilemmas.[4] Ihre zentrale Funktion in diesen kanonisierten Texten ist es, eine Folie zu bilden, von der sich die männlichen Protagonisten auf besonders gelungene Weise abheben.[5] Zink stellt fest, dass im literarischen Diskurs des 19. Jahrhunderts jegliche Kritik an der Prostitution fehlt. Die Figur der Prostituierten diente zum einen als zentraler Hebel zur nationalkulturellen Mythenkonstruktion, zum anderen wurde sie für die Profilierung des Mannes im Kampf der Geschlechter instrumentalisiert: „Um seiner Auferstehung willen, haben Verführung und Prostitution ihren Sinn und ihre Legitimation.“[6] Befrachtet mit einer überbordenden Symbolik steht die Prostituierte in der russischen Literatur dabei in einem eklatanten Missverhältnis zu ihrem „realen“ Status in der außerliterarischen Welt. Dass die Art und Weise der Präsentation dieser „leichten Mädchen“ wenig frivol ausfällt und häufig die Prostitution des Körpers auf jene der Seele verschoben,[7] die Prostituierte von einem Sexual- in ein Moralobjekt verwandelt wird, untermauert die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Moral.
Wie eine Bestätigung dieser Analysen[8] liest sich der Anfang eines als Monolog bezeichneten Erzähltextes Ljudmila Petruševskajas aus dem Jahr 1988 mit dem Titel Xenias Tochter (Doc Kseni):
Immer, zu allen Zeiten haben Schriftsteller, wenn sie zur Feder griffen, um über Prostituierte zu schreiben, diese gerechtfertigt. Daß jemand auf die Idee käme, über ein leichtes Mädchen zu schreiben, um es zu diffamieren, wäre ja auch weiß Gott eine merkwürdige Vorstellung. Die Aufgabe der Literatur besteht doch offenbar gerade darin, alle die, über die man für gewöhnlich die Nase rümpft, als Menschen darzustellen, die Achtung und Mitleid verdienen. In diesem Sinne erheben sich die Schriftsteller gleichsam über die übrige Welt, indem sie es auf sich nehmen, die einzigen Fürsprecher dieser Geächteten zu sein, indem sie die Funktion des Friedensrichters und Verteidigers übernehmen, die schwere Aufgabe, Ideale zu vermitteln und Erzieher zu sein.[9]
Ob sich dieses für das 19. Jahrhundert gültige Modell der Prostitutionsdarstellung auch ungebrochen im 20. Jahrhundert fortschreibt, wie Petruševskaja hier zunächst suggeriert, wird im Folgenden untersucht. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich die zeitgenössische russische Frauenliteratur, der sogenannte „ženskaja proza“, zu dieser „russischen Linie“ der Prostitutionsdarstellung verhält. Gibt es Differenzen zu dem literarhistorisch gesehen eindeutig männlich dominierten Diskurs?
Das Fin de Siècle führt im Kontext des Aufkommens neuer Geschlechterdiskurse (Androgynie, Hysterie, Homosexualität) zu einer Auffächerung der Frauenbilder, die – wie beispielsweise Aleksandr Bloks Unbekannte (Neznakomka, 1905) – unter dem neuen Label der „Femme Fatale“ die „klassische“ Prostituierte ein wenig aus dem Bild rückt. Mit der Revolution von 1917 nimmt die „russische Linie“ eine weitere Wendung: Im neuen kommunistischen Paradies gibt es keinen Platz für das Phänomen,[10] welches als Teil des kapitalistischen, bourgeoisen Systems der alten zaristischen, aber auch der westlichen Welt zugeordnet wurde. Gleichzeitig repräsentierte die Figur der Prostituierten das andere Russland und wird auch als Symbol des Protests gegen die bolschewistische Ideologie verwendet.[11] In der NEP-Zeit, jener kurzen wirtschaftsliberalen Phase in den 1920er Jahren, changiert sie zwischen diesen Polen und wird zu einer Art Chiffre für die moralischen und physischen Krankheiten, die die teilweise Rückkehr zur Marktwirtschaft mit sich gebracht hat, bevor mit Beginn der 1930er Jahre der Krieg gegen die Prostitution für gewonnen erklärt wurde und das Phänomen offiziell nicht mehr existierte.[12] Damit wird die Prostituierte zu einem der vielen Tabu-Themen der Sowjetzeit.
Ins Blickfeld rückt sie erst wieder, als mit Glasnost und Perestrojka die Prostituierte zu dem zentralen Symbol der neuen sexuellen Freiheit in Sowjetrussland wird und für eine enorme Präsenz des Themas in den Medien und in der Literatur sorgt. Katerina Clark vergleicht den hohen Stellenwert der Prostituierten in dieser Periode der gesellschaftspolitischen Veränderungen sogar mit jenem, den in der russischen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Figuren des „überflüssigen Menschen“ oder des „Nihilisten“ innehatten.
In der Glasnost‘-Literatur wird die Prostituierte gleichzeitig für zwei gegensätzliche, einander jedoch bedingende Repräsentationsmuster verwendet: zum einen als zentrale Trope der russischen Nation, ihrer nährenden Weiblichkeit, wobei die Prostituierte neben der Matuška Rus‘ (Mütterchen Russland) u.a. als eine Hypostase der den nationalkulturellen Identitätsdiskurs tragenden Weiblichkeitsmythen zu sehen ist;[13] zum anderen als Symbol der kapitalistisch-westlichen, dekadenten Welt. Zwei sehr erfolgreiche Texte seien hier stellvertretend für viele angeführt: Vladimir Kunins Intergirl (Interdevocka, 1988), in dem die Devisenprostituierte Tanja – schön, feminin, sexuell befreit und ökonomisch erfolgreich – die auf Glamour und Marken fixierte Welt der späten Sowjetunion verkörpert. Gleichzeitig ist sie auch als Allegorie für Russlands Beziehung zum Westen angelegt: „Reich an natürlicher Schönheit, verkauft sich Rußland an ausländische Freier, nur um anschließend von Heimweh und Reue überwältigt zu sein.“[14] Ähnlich ambivalent, wenn auch in der Drastik der Beschreibung sexueller Gewalt und hinsichtlich der sprachlichen Obszönität wesentlich eindringlicher, ist Viktor Erofeevs Erfolgsroman Moskauer Schönheit (Moskovskaja krasavica, 1990) einzuschätzen: Das „Luxusluder“ Tarakanova ist gleichzeitig die perfekte weibliche Verkörperung eines verderbten, merkantilen Russlands und als „gefallene Frau“ Symbol für dessen Erlösung.[15] Allerdings bleibt es im permanenten Wechsel von Re- und Dekonstruktion der gängigen, das Prostitutionssujet umgebenden Mythen offen, ob der Roman als Teil eines kritischen oder affirmativen Diskurses einzuschätzen ist.In der postsowjetischen Zeit ist die Prostituierte nicht nur ein wichtiges „Accessoire“ der neureichen Oligarchenschicht – hier wird sie zu einem zentralen Statussymbol, das mit Maskulinität und sexueller Potenz verknüpft wird –, sondern wird auch ein Thema, an dem ein – zumindest in Ansätzen – kritischer Diskurs über die Verflechtung von Sexualität, Macht und Geld verhandelt werden kann. Wenn auch nur in einem kleinen Bereich, so beginnen sich in den 1990er Jahren neue Repräsentationsmuster herauszubilden: Es ist insbesondere die russische Frauenliteratur, in der die Figur der Prostituierten, der Hure, des „leichten Mädchen“ als ein Vehikel dient, um Genderdiskurse zur Sprache zu bringen und patriarchale Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse transparent zu machen. Auf der Basis meiner bisherigen Kenntnisse der postsowjetischen Frauenliteratur kann ich die These der Slawistin Christa Ebert,[16] wonach diese einen gesellschaftlichen Alternativdiskurs transportiere, durchaus unterstützen. Zwar gibt es kaum eine mit der Jelinekschen Poetik vergleichbare radikal-dekonstruierende Stimme – vielfach bleiben die patriarchale Werteordnung ebenso wie die Geschlechterkonnotationen der russischen Nationalmythen in Kraft, aber dennoch gibt es Verschiebungen, auch hinsichtlich des Prostitutionssujets: Einerseits erobern die Texte alte Tabuzonen, andererseits machen sie die Konstruiertheit der traditionellen Bilder sichtbar.
Im Folgenden werde ich einige wichtige Postionen der ženskaja proza schlaglichtartig anführen, um abschließend auf jene Sujetlinie einzugehen, bei der Autorinnen die traditionelle Engführung von weiblicher Mobilität und Prostitution kritisch aufgreifen.Die Protagonistinnen der Texte von Svetlana Vasilenko sind kraftvolle und sinnliche Charaktere mit starkem sexuellem Begehren.[17] Selbst dort, wo sie als sexuell missbrauchte und vergewaltigte Frauen gezeichnet werden, behaupten sie über den Opferstatus hinausgehend ihren Freiheitsanspruch. Šamara, die Heldin der gleichnamigen Erzählung (1990), erpresst den Mann, der sie mehrfach vergewaltigt, zur Ehe, um ihre „Entehrung“ zu legalisieren. Dieses „Gleiten zwischen einer Subjekt- und einer Objektposition“[18], zwischen der Täter- und der Opferrolle, ist typisch für die Textwelt Vasilenkos, deren feministisch-emanzipatorisches Potential sich uns „westlichen“ LerserInnen erst auf den zweiten Blick erschließt. Es entfaltet sich insbesondere entlang eines sehr eigenwillig gestalteten Körperdiskurses. Vasilenko verwendet in ihren Texten verschiedene Aspekte bisher in der russischen Kultur tabuisierter Körperlichkeit in unorthodoxer, bewusst provokanter Weise,[19] indem sie weibliche Identität über eine neu erfahrene, selbstbestimmte Körperlichkeit konstruiert. Den klassischen weiblichen Körperidealen stellt Vasilenko sein groteskes Gegenstück entgegen und schreibt damit – wie Goscilo nachweist[20]– gegen die literarische Überdeterminierung des weiblichen Körpers als Stimulus männlichen sexuellen Begehrens an. Ambivalent bleibt ihr Körperdiskurs allemal, symbolisiert er doch einerseits die Eingeschlossenheit der Frau in ihrem sozialen Gefüge, das andererseits aber durchaus als veränderbar dargestellt wird. Im schon erwähnten Erzähltext Šamara bricht die Heldin das patriarchale Herrschaftssystem durch den Einsatz ihres eigenen Körpers auf, der gleichzeitig Quelle von Lust und Gewalt und Abhängigkeit ist.[21]
Die in der Tradition des realistischen Erzählens stehende Ljudmila Ulickaja greift in der Gestaltung ihrer Frauenbilder nicht selten auf Intertexte aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zurück. Im Kontext der Prostitutionsthematik ist die frühe Erzählung Sonecka (1992) interessant, in der die titelgebende Heldin in intertextueller Referenz zum unschuldig gefallenen, moralisch reinen Mädchen Sonja Marmeladova aus Dostoevskijs Verbrechen und Strafen (Prestuplenie i nakazanie, 1866) angelegt ist, deren Funktion im Text die Rettung Raskol’nikovs ist. Ähnlich wie Sonja ist Sonecka eine sittlich und moralisch untadelige Frau, die allerdings – im Unterschied zur Vorlage – nie auch nur annähernd in den Dunstkreis von Prostitution geraten war. Vielmehr ist es hier ihre Gegenspielerin Jasja, die Soneckas Ehemann aus ihrem Schicksal als Kinderprosituierte und Putzfrau herausführt und zu seiner Muse und Geliebten macht. Hierin schreibt Ulickaja den klassischen Diskurs fort, überschreibt ihn aber dort, wo die Rettung des „gefallenen Mädchens“ nicht nur von männlicher, sondern auch von weiblicher Seite getragen wird. Soneckas Toleranz und verständnisvolle Duldsamkeit geht so weit, dass sie sogar nach dem Tod ihres Gatten dessen Geliebte Jasja weiter unterstützt. Im Überspannen dieses Diskursbogens – so ließe sich argumentieren – stellt Ulickaja das klassische Modell in Frage.
Der bereits eingangs zitierte Erzählmonolog Xenias Tochter (Doc Kseni, 1988) von Ljudmila Petruševskaja gibt – ähnlich wie andere Erzähltexte der Autorin, die weibliche Prostitution zum Thema haben (z.B. Ein tolles Mädchen; Takaja devocka, 2001) – ?insichten in die patriarchalen Verhältnissen, in denen die Protagonistinnen leben. Der Text ist als direkter Kommentar zur Rolle der Prostituierten in der (russischen) Literatur zu sehen. Neu ist das Ausstellen der männlichen Rolle im Kontext weiblicher Prostitution, der voyeuristische Blick auf die verurteilte Frau ist ein männlicher. Aber auch für die beiden Frauen – sowohl Xenia als auch ihre Tochter sind Prostituierte – hegt die Erzählstimme wenig Sympathie. Petruševskaja führt hier weder einen Mitleids- noch einen moralischen Diskurs, vielmehr geht es um ein neorealistisches Hinsehen, ein schonungsloses Zeigen der Verhältnisse, in denen Prostitution passiert, „[…] ohne Geheimnis, ganz gewöhnlich. Sie [Xenias „Hurentochter“,[22] Anm. d. Verf.] scheint nichts von dem ewig Rätselhaften und Geheimnisvollen zu haben, in das sich das Verbrechen gegen die Moral doch eigentlich zu hüllen pflegt.“[23]
Eine gänzlich andere Ästhetik in der Auflösung der Täter-Opfer-Dualität, die sich bei allen bisher angeführten Autorinnen findet, bietet Valerija Narbikovas postmoderner Weltentwurf, in dem – und das gilt für alle ihre vorgelegten Texte – Sexualität, Körper und Liebe zentrale Sujetlinien darstellen, auch wenn hier Prostitution kein explizites Thema ist. Die vielen erotischen Dreiecksverhältnisse, die überbordende und frei ausgelebte Sexualität der ProtagonistInnen und deren schwindelerregendes Unterwegssein durch Raum und Zeit stellen jenen Rahmen dar, in denen Narbikova ihre zur Tradition alternativ entwickelten HeldInnen positioniert. Innovativ und einzigartig ist Narbikovas postmodernes Schreiben, in dem sie das Liebes- als Sprachspiel entwickelt und Sexualität und Textualität gleichsetzt. Bei Narbikova wird die Sprache selbst erotisch-körperlich dynamisiert und jeder Text zu einem Wort-Körper der Lust gemacht. Die unzähligen Seitensprünge der Protagonistin des Romans Die Reise (…i putešestvie, 1996) werden als Abenteuer- und Reisegeschichten entwickelt. Jegliche moralisierende Konnotation dieses hedonistischen bunten Treibens sowie eine kritische Perspektive auf die Geschlechter- und Machtverhältnisse in den dargestellten Paarbeziehungen bleiben ausgespart: Die Bewegung von einer Liebe zur nächsten, vom Geschlechtsverkehr damals und dort zum Geschlechtsverkehr jetzt und hier, steht einzig im Dienst der Dynamisierung eines Textbegehrens, um hier einen für die Poetik Narbikovas sehr treffenden poststrukturalistischen Terminus einzuführen.
Marina Palejs frühe Erzählung Die Cabiria vom Obvodnyj-Kanal (Kabiria s obvodnogo kanala, 1991) ist ein weiteres Beispiel dafür, wie in der zeitgenössischen russischen Frauenliteratur versucht wird, das Bild von einer lebens- und lustbetonten Frau, das in vielen klassischen Texten zur Prostituierten degeneriert wird, aufzuwerten, auch wenn in ihrer emphatischen Darstellung alles Körperlichen und Sexuellen traditionell männlich geprägte Bilderwelten tradiert werden. Aus der Perspektive ihrer Cousine wird die Geschichte von Monka erzählt, einem lebenslustigen, wilden Mädchen, das von Kindheit an kaum zu „halten“ ist und ein außergewöhnlich starkes Interesse am männlichen Geschlecht hat. Sie wird für das Ausleben ihrer Lust bestraft: von Seiten ihrer Eltern[24] und der prüden Gesellschaft, aber auch – so ließe sich interpretieren – vom Leben selbst, denn sie erkrankt an einem Herzleiden, das letztendlich zu ihrem frühen Tod führt. Dennoch ist der Text weniger ein Krankenbericht, der auf eine Pathographie des russischen Alltags zielt, wie Ulrich Schmid[25] in seiner Rezension meint, sondern ein mit vielen satirischen Referenzen auf die sowjetrussische Gesellschaft und Literatur angereicherter Gegentext zum sexual- und frauenfeindlichen Moralkodex der russischen Kultur.
Auf einen spezifischen Aspekt der Verhandlung des Prostitutionssujets in der ženskaja proza verweist Karin Sarsenov in ihrem Aufsatz Kann denn Reise Sünde sein? Drei russische Romane über mobile Frauen (2006)[26], in dem sie Engführung von Prostitution mit weiblicher Mobilität bzw. Migration untersucht. Sie verweist auf die klassischen Topoi von der sesshaften Frau und dem mobilen Mann, die die abendländische Literatur durchziehen und die sexuelle Stigmatisierung mobiler Frauen implizieren. Im Kontext der russischen Kulturgeschichte stellt die mobile Frau gleich zwei miteinander verbundene Vorstellungen in Frage: die dem Bild von der mütterlichen Nation eingeschriebene weibliche Passivität, Sittsamkeit und Reinheit sowie das kulturelle Tabu, als Frau ohne Begleiter zu reisen.[27] Alternativen zu der kanonisierten Literatur, die die mobile Heldin als Prostituierte darstellt, findet Sarsenov in drei Texten zeitgenössischer Autorinnen, die das Thema der migrierenden Frau aufgreifen, um die Verknüpfungen von Geschlecht und nationaler Identität neu zu verhandeln. Das erste Beispiel ist die Erzählung Zü-ürich (Cju-jurich, 2002) von Ljudmila Ulickaja, in der die Protagonistin einen Ausländer heiratet, und allein dadurch der Schatten einer stigmatisierten sexuellen Zügellosigkeit über dem Text hängt[28]: „Es war eine internationale Ausstellung, aus der ganzen Stadt kamen illegale Devisenhändler und vollbusige Mädchen, Pionierinnen des internationalen Business, deren frische Ware in rosa Slips mit grobem Gummi verpackt war. Lidija konnte ganz beruhigt sein – niemand wäre auf die Idee gekommen, daß auch sie hier auf der Jagd war.“[29]
Geht es bei Ulickaja um das Phänomen der weiblichen Heiratsmigration von Ost nach West, so ist bei Nina Sadur im Roman Der Deutsche (Nemec, 1997) eine komplexe Dekonstruktion von Kernsymbolen nationalistischer Mythologeme, die für die Stigmatisierung deplatzierter Frauen verantwortlich sind, am Werk, obwohl vordergründig (auch hier) die Ehe mit einem Ausländer als falscher Weg dargestellt wird, dem die religiöse (Pilger-)Reise in der Heimat vorzuziehen sei.[30]
Auch bei Marija Rybakova wird im Roman Die Reise der Anna Grom (Anna Grom i ee prizrak, 1999) der sexistische Diskurs über die Migrantin nicht ganz eindeutig verworfen: „Du hast mich nie gefragt, wieso ich nach Deutschland gekommen bin. Vermutlich hast Du den banalsten aller Gründe befürchtet und gedacht, ich könne wegen des besseren Lebens, also des Geldes wegen gekommen sein. Und genau so war es ja auch, wozu sollte ich das verheimlichen?“[31] Die Geschichte der russischen Migrantin Anna Grom in Deutschland endet zwar tragisch, nimmt aber eine unerwartete Wendung, denn die Heldin ergreift nach ihrem Tod das Wort und kann jetzt ihre eigene sexuelle/textuelle Aktivität steuern und Aufmerksamkeit für sich und ihre Position einfordern.[32]
So ist es zumindest eine subtile Weise des Widerstands, den die hier angeführten Texte gegenüber der Verknüpfung von nationalkulturellen und geschlechterspezifischen Diskursen leisten und damit das Stigma der Prostituierten, das über der Migrantin schwebt, aufbrechen.
Welche Wendung nimmt die „russische Linie“ der Prostitutionsdarstellungen also in der ženskaja proza? Wenn auch die von mir angeführten Beispiele sowohl in der Drastik der Darstellung als auch in der Vehemenz der kritischen Dekonstruktion der Verflechtungsverhältnisse von Sexualität, Körper und Ökonomie weit hinter dem Jelinekschen Textuniversum einzureihen wären und hier ein Vergleich mit Texten aus männlicher Feder, wie beispielsweise von Viktor Erofeev, Valdimir Sorokin oder Michail Kononov, naheliegender wäre,[33] so kann ihnen dennoch die kritisch-emanzipatorische Intention nicht abgesprochen werden. Mit Schuckman würde ich argumentieren, dass deren wesentlicher Beitrag darin zu sehen ist, zu einer „Normalisierung“ der Darstellung der Prostituierten zu führen,[34]d.h. sie von der Aura, die ihr die literarische Tradition aufgebürdet hat, zu befreien. Die Figur der Prostituierten wird in vielen Texten der ženskaja proza von der moralischen und spirituellen Reinheit entlastet und stattdessen in ihrem physischen Dasein und im Kontext ihres meist schwierigen Milieus dargestellt. Damit eröffnen die Texte die Möglichkeit zur kritischen Diskussion von Geschlechterfragen in der russischen Kultur, die von einer Auseinandersetzung mit der Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft bis hin zur Verhandlung von sexueller Identität/Alterität reicht. Auch wenn in der ženskaja proza nationalkulturelle Weiblichkeitsmythologeme immer wieder affirmierend aufgegriffen werden, eröffnet sie gleichzeitig Raum für deren dekonstruktive Lektüre.
7.3.2014
Eva Hausbacher Professorin für Slawistische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Slawistik der Universität Salzburg. Studium der Slawistik und Germanistik an der Universität Salzburg, Studien- und Forschungsaufenthalte in Bulgarien und Moskau. Habilitation 2008. 2011 Vertretungsprofessur an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur im 20. und 21. Jahrhundert, Literatur im Kontext von Migration, Literatur- und Kulturtheorie, Gender Studies und Postcolonial Studies und Inter- und Transkulturalitätsforschung.
Anmerkungen
[1] Borenstein, Eliot: Nation im Ausverkauf: Prostitution und Chauvinismus in Rußland. In: Osteuropa: Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 6/2006, S. 99-121, S. 99.
[2] Zink, Andrea: Liza – Sonja – Katjuša: Überlegungen zur literarischen Karriere der russischen Prostituierten. In: Jahrbuch der deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 15 (2008), S. 83-96.
[3] Zu den Schlüsseltexten, in denen die Matrix der Prostituierten, die bis zur Gegenwartsliteratur intertextuell perpetuiert wird, entworfen wurde, zählen: Nikolaj Gogols Der Nevskij Prospek (Nevskij prospekt, 1835), Nikolaj Cernyševskijs Was tun? (Cto delat‘, 1863) , Fedor Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Zapiski iz podpol’ja, 1864) und Verbrechen und Strafen (Prestuplenie i nakazanie, 1866 ), Lev Tolstojs Auferstehung (Voskresenie, 1899), Anton Cechovs Der Anfall (Pripadok, 1888).
[4] Vgl.: Borenstein, Eliot: Nation im Ausverkauf, S. 103.
[5] Vgl.: Zink, Andrea: Liza – Sonja – Katjuša, S. 84.
[6] Ebd., S.92.
[7] Vgl.: Ebd., S. 90.
[8] Siehe auch: Matich, Olga: A Typology of Fallen Women in Nineteenth Century Russian Literature. In: Debreczeny, Paul (Hg.): American Contributions to the Ninth International Congress of Slavists. Vol. II: Literature, Politics, History. Columbus: Slavica 1983; Schuckman, Emily: Representations of the prostitute in contemporary Russian literature and film. Washington, Diss. 2008.
[9] Petruschevskaja, Ljudmila: Xenias Tochter. In: Petruschevskaja, Ljudmila: Unsterbliche Liebe. Erzählungen. Berlin: Volk und Welt 1990, S. 71.
[10] Vgl.: Aleksandra Kollontajs Erzählung Schwestern (Sestry, 1923).
[11] Vgl.: Michail Bulgakovs Drama Zojas Wohnung (Zojkina Kvartira, 1926).
[12] Vgl.: Borenstein, Eliot: Nation im Ausverkauf, S. 105.
[13] Insbesondere im Kriegsdiskurs – ein eindringliches Beispiel wäre hier Michail Kononovs Roman Die nackte Pionierin (Golaja Pionerka, 2001) – fungiert der sich preisgebende weibliche Körper als wichtiges Symbol und Zeichen, er repräsentiert die Erde der Heimat, was bereits durch die Nacktheit der Prosituierten im Gegensatz zum uniformierten Soldatenkörper sichtbar wird und auf die Gegenüberstellung von weiblicher Nation und männlichem Staat verweist (Vgl. dazu: Lunz, Eva. Marija und der Mythos – oder vom Sterben der Helden in Michail Kononovs „Golaja pionerka“. Salzburg, Dipl. 2011.).
[14] Borenstein, Eliot: Nation im Ausverkauf, S. 108.
[15] Vgl.: Ebd., S. 107.
[16] Vgl.: Ebert, Christa: Krise oder Aufschwung? Beobachtungen zur spätsowjetischen und postsowjetischen Frauenliteratur (Alltagsprosa). In: Ebert, Christa:‚Die Seele hat kein Geschlecht‘. Studien zum Genderdiskurs in der russischen Kultur. Frankfurt am Main: Lang 2004, S. 113-126.
[17] Vgl.: Parnell, Christina: Weiblichkeit als Differenz. Identitätsdisksussion im Werk Svetlana Vasilenkos. In: Jekutsch, Ulrike (Hg): Selbstentwurf und Geschlecht. Kolloquium des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001, S. 111-123.
[18] Parnell, Christina: Weiblichkeit als Differenz, S. 115.
[19] Vgl.: Goscilo, Helena: Dehexing Sex: Russian womanhood during and after Glasnost. Ann Arbor: Michigan Univesity Press 1996, S. 91.
[20] Vgl.: Ebd., S. 104.
[21] Vgl.: Schmid, Sonja: Zeitgenössische russische Kurzprosa: Svetlana Vasilenko. Wien, Dipl. 1997.
[22] Vgl.: Petruschevskaja, Ljudmila: Xenias Tochter, S. 74.
[23] Ebd., S. 75.
[24] „Monka benutzte den Nachttopf schon lange nicht mehr. In der Nacht war sie meistens nicht zu Hause. Sie verschwand zu nächtlichen Tänzen, und am Morgen half ihr jedes Mal ein Typ mit Schirmmütze vom Fahrrad herunter. […] Sie wurde verprügelt. Monkas lieber Papa, Arnold Aronovic, ein Held des Finnlandfeldzuges, wickelte gemächlich seinen Armeegurt über die fingerlose Hand. Seine Hose fiel zu Boden, er stieg über sie hinweg. Nur mit der Unterhose bekleidet ging dieses Tier nun schnaubend auf seine minderjährige Tochter los, die schon alle Stühle umgestoßen hatte und sich gegen die präventiv verschlossene Tür warf. Der spinnenartige Zyklop sog sich mit seinem Einauge mühelos an seiner Beute fest: Monka stand wie erstarrt in der Ecke. Ihr Herr Vater bearbeitete sie schweigend, mit Wonne, gab von Zeit zu Zeit einen wollüstigen Schrei von sich und atmete in harten Stößen aus.“ (Palej, Marina: Die Cabiria vom Obvodnyj-Kanal. In: Palej, Marina: Rückwärtsgang der Sonne. Graz: Droschl 1997, S. 102-103.)
[25] Schmid, Ulrich: Sprechende Körper. Marina Palej – eine neue Stimme aus Russland. In: Neue Zürcher Zeitung, 2.11.1997.
[26] Vgl.: Sarsenov, Karin: Kann denn Reisen Sünde sein? Drei russische Romane über mobile Frauen. In: Osteuropa: Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 6/2006, S. 123-138.
[27] Vgl.: Ebd., S. 125.
[28] Vgl.: Ebd., S. 127.
[29] Die deutsche Übersetzung folgt der bei Sarsenov verwendeten, noch unveröffentlichten Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt, zit. nach Sarsenov, Karin: Kann denn Reisen Sünde sein?, S. 127.
[30] Vgl.: Sarsenov, Karin: Kann denn Reisen Sünde sein?, S. 134.
[31] Rybakova, Maria: Die Reise der Anna Grom. Eine Liebesgeschichte. Berlin: Rowohlt 2001, S. 13.
[32] Vgl.: Sarsenov, Karin: Kann denn Reisen Sünde sein?, S. 138.
[33] Grundsätzlich stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit eines derartigen Vergleichs, wobei die sehr spezifische (sowjet)russische Kulturentwicklung, die ich im Text zumindest ansatzweise angesprochen habe, eigentlich dagegen sprechen würde. Im Vergleich zur Entwicklung des Prostitutionssujets in westeuropäischen Literaturen lässt sich neben vielen Ähnlichkeiten eine russische Spezifik ausmachen, die mit einem doppelten „othering“ als struktureller Positionierung der Prostituierten zusammenhängt: innerhalb des (sowjet)russischen Kontextes ist sie als weibliche Nation das Andere im Verhältnis zum männlichen Staat; im interkulturellen Kontext ist sie das Andere gegenüber den dekadenten Verführungen des „Westens“. Diese mehrfach gerichtete „Andersheit“ der russischen Prostituierten macht sie aber auch zu einem „privilegierten“ Charakter im literarischen Text, der AutorInnen ein Feld eröffnet, jene nicht nur in der zensurgeplagten sowjetrussischen Literatur kontrovers diskutierten Themen von Geschlecht, Sexualität und Macht zu verhandeln.
[34] Vgl.: Schuckman, Emily: Representations of the prostitute in contemporary Russian literature and film.
ZITIERWEISE
Hausbacher, Eva: Überlegungen zum Prostitutionssujet in der zeitgenössischen russischen Literatur von Frauen. Eva Hausbacherhttps://jelinektabu.univie.ac.at/index.php?id=169296 (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
Elfriede Jelinek
Texte - Kontexte - Rezeption
Universität Wien
Universitätsring 1
1010 Wien
T: +43-1-4277-25501
F: +43-1-4277-25501