Ein Tabu zu brechen, kann bedeuten, dass man die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Gemeinen, dem Reinen und dem Unreinen oder dem Normalen und dem Abnormen überschreitet. Wenn man bisherige Tabus, die einer Gesellschaft Umstände und Schaden verursachen, überwinden will, könnte z.B. eine Institution sie durch Gesetze oder Verordnungen verbieten. Aber das Bewusstsein derjenigen, die sie eingehalten haben, kann nicht einfach beseitigt werden. Wenn man sich in einem literarischen Werk mit einem Tabu, vor allem mit der tabuisierten Liebe, auseinandersetzen will, muss man diese als prekäre Sache behandeln, weil das Tabu-Bewusstsein derjenigen, die das Tabu ohne Zweifel akzeptieren und hegen, nur sehr schwer zu beseitigen ist.
Im vorliegenden Text werden einige Werke zeitgenössischer japanischer Schriftstellerinnen behandelt. Eine Autorin verwendet ihren eigenen Namen für eine ihrer Figuren. Andere Autorinnen behandeln in ihren Werken Probleme der Sexualität oder auch die tabuisierte Liebe.
1. Die Situation der zeitgenössischen japanischen Literatur
Wenigstens zwei AutorInnen, die neuerdings über die Qualität der literarischen Worte in japanischen Kulturtexten nachdenken, behaupten, dass die Erziehungsbehörden noch mehr darauf achten sollten, dass die SchülerInnen mehr in der neueren Literatur unterwiesen werden und sie lesen. Der eine ist Saiichi Maruya (1925-2012)[1] und die andere heißt Minae Mizumura (*1951). Die beiden wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Mizumura beschreibt z.B. die Situation der heutigen literarischen Szene in Japan folgendermaßen: Sie ist der Meinung, dass die neuere japanische Literatur, die früher einen Teil der Sprachkultur übernommen hatte, heute nur zu der Volksliteratur wurde, die ohne literarische Raffiniertheit einfach in der Landessprache, d.h. im Japanischen, geschrieben ist. „Eigentlich gibt es zwischen dieser Verwandlung und Englisch als ‚universal language‘ keine Kausalität. Bereits bevor deutlich wurde, dass Englisch zur lingua franca wurde, war die japanische Literatur bereits von innen infantil geworden.“[2] Einer der Gründe dafür sei, dass sich das Konsumverhalten der Japaner nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich extrem verschärft habe. Außerdem ist Japan ein Inselstaat, der zumindest geographisch nicht zum Westen gehört und sich auch immer wieder von selbst abkapselte, wenn man ihn auch wiederholt „öffnete“. Daher hält das Volk sowohl die japanische Gegenwartssprache, als auch das das heutige Japan für selbstverständlich, und die SchriftstellerInnen werden nicht mehr dazu gezwungen, sich mit der Sprache auseinanderzusetzen, wenn sie die unerfassbare „Wirklichkeit“ erfassen wollen. Mizumura behauptet, dass nur diejenigen, die die neuere japanische Literatur, die gelesen werden sollte, gelesen haben, die Qualität der japanischen Literatur verstehen und beurteilen könnten.[3] Sie steht auf diesem Standpunkt und sorgt sich innerhalb des 6. Kapitels[4] um die gefährdete Zukunft der japanischen Literatur.
Deshalb kritisiert sie hier deutlich die sinkende Qualität des Stils der zeitgenössischen japanischen Literatur, vor allem der Literatur, die globalisiert eingestellt ist und die weltweit gelesen wird. Wenn sie wahrnimmt, dass es in Japan auch diejenigen gibt, die mit Stolz äußern, dass die japanische Literatur, die globalisiert eingestellt ist, „in den westlichen Ländern geschätzt ist“, muss sie klagend feststellen: „Es gibt im heutigen Japan fast keine Leute, die auf die Unsinnigkeit dieser kulturell niveaulosen Äußerung aufmerksam machen. Während man es vernachlässigt hatte, über die Sprachen ernsthaft nachzudenken, vergaß man sogar die Schwierigkeiten, vom Japanischen in die westlichen Sprachen übersetzt zu werden.“[5] Auf ihrem Standpunkt kann ihre Klage als die logische Folge betrachtet werden.
In Japan ist man sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass Japanisch aus einer Art Ideographie (Kanji) und aus zwei Arten der phonographischen Schriften (Hiragana und Katakana) besteht. Je nach der gewählten Wörter-Kombination aus diesen drei verschiedenen Schriften erreicht man Texte mit unterschiedlichen rhetorischen Effekten und Funktionen. Wenn Mizumura also schreibt: „Wenn die Texte von Soseki Natsume (1867-1916) in westliche Sprachen übersetzt werden, sind sie nicht mehr seine eigentlichen Texte, selbst wenn sie gut übersetzt sind“[6],stellt sich Mizumura vielleicht den literarischen, gedankenreichen, subtilen Ausdruck in der Muttersprache vor und denkt, dass man einen solchen Ausdruck und Stil nur mithilfe der Lektüre der neueren japanischen Literatur lernen könne.
Sie meint, man könne bei Übersetzungen von Sosekis Texten nur die Handlung verstehen, aber diese sei eben nur ein Element für die Literatur. Sie hält offensichtlich auch kaum merkliche Bedeutungsnuancen, Wortspiele etc. für sehr wichtig. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten beim Übersetzen literarischer Werke. Daher kann man sagen, je qualitativ hochwertiger ein Werk ist, desto schwieriger wird die Übersetzungsarbeit.
Natürlich kann man Japanisch nicht nur für die poetische Sprache, sondern auch als phonographische Sprache verwenden, als gesprochene Sprache oder als Mediensprache. Aber solche Verwendung scheint für Mizumura, die Verneinung des wesentlichen Charakters der geschriebenen Sprache, d.h. die Verneinung des Lesens zu sein sowie der Kultur, die in den Sprachen besteht, die gelesen werden sollten.[7] Deshalb ist sie gegen das Japanische als Phonographie und will Literatur nicht auf Englisch als „universal language“, die seit den 1990er Jahren das Internet erobert, verfassen, wenn sie sich auch von 1963 bis 1983 in den USA aufgehalten hat.[8] Und sie will aus diesem Grund auch kein literarisches Werk schreiben, das man so leicht ins Englisch übersetzen kann. Ihre eindeutig kritische Haltung gegenüber der stilistisch vereinfachenden Strömung der zeitgenössischen japanischen Literatur stellt meiner Meinung nach einen gewissen Tabubruch dar.
2. Die Tabubruch-Momente des Romans von Minae Mizumura
2.1 Die Notwendigkeit, die Romanform selbst zu problematisieren
Sie wollte bei ihrem langen Roman Honkaku Shosetsu (Ein authentischer Roman) (2002)[9] Romanform und Romanstruktur selbst problematisieren. Dies erwähnt Mizumura in einem 2002 veröffentlichen Interview.[10] Die Autorin lässt darin die Ich-Erzählerin Minae Mizumura, die eine der drei ErzählerInnen ist, in einer Sequenz über den Begriff „authentischer Roman“ schreiben, was suggeriert, dass die westlichen Romane aus dem 19. Jahrhundert für die Gattung des Romans in der neueren japanischen Literatur als Model und Vergleichs-Kriterium galten. Aber dieser Begriff wurde ihrer Meinung nach schon längst in der Geschichte der neueren japanischen Literatur begraben. In der heutigen Zeit würden allerlei Romanformen parallel zueinander existieren, und der Begriff „authentischer Roman“ ergebe daher kanonisch keinen Sinn mehr (Vgl.: Mizumura, 2002, S. 228). Aber die Leser sollten sich durch Minaes Bemerkung in dieser Sequenz nicht irremachen lassen: „Ich will von jetzt an nicht ‚einen authentischen Roman‘ schreiben, in dem ein allwissender Erzähler eine erfundene Geschichte darstellt, sondern ich will in meinem Roman ‚eine wirklich geschehene Geschichte‘ darstellen“ (Mizumura, 2002, S. 228). Minae will ihre Formulierung hier den Lesern plausibel machen und weicht jeder Erwartung und jedem Hintergedanken der Leser raffiniert aus, nur um zu unterstreichen, dass ihre Geschichte wahr ist. Doch muss man da auf den Gedanken kommen, dass man in einem Roman normalerweise nicht über etwas referiert, sondern eine Geschichte erfindet. Ihre unzuverlässige Formulierung hier deutet schon eine Strategie der Autorin Mizumura an, ein Tabu zu brechen. Eventuell könnten dem Leser hier die Gespräche zwischen Erika Kohut und Walter Klemmer im Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ einfallen, in denen es um unwahre Äußerungen geht, um wahre Gefühle zu verbergen.
Die Autorin Mizumura bemüht sich, ein charmantes Kunstwerk zu schaffen und die Leser in eine bezaubernde Falle zu locken, damit sie sich bei der Lektüre ihres Romans amüsieren können. Ihre subtile Schilderung der früheren Gesellschaft vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auf Japanisch, als der Volkskonsum noch nicht so radikalisiert war, führt den Lesern die Neugier und eigenartige nostalgische Atmosphäre vor Augen, nach der sich die Autorin selber in Amerika als erste gesehnt hat und die sie sich als Image des früheren Japans vorgestellt hat, das sie selber nicht erlebt hat, weil sie noch nicht geboren war. Das hat sie alles nur in der Lektüre „erlebt.“
Statt mit den Klassenkameraden nach dem Unterricht auszugehen, blieb Minae in dem Kolonialstilhaus in der Vorstadt von New York, hat sich mit der Lektüre sämtlicher Werke der neueren japanischen Literatur beschäftigt, die im Jahr 1926 herausgegeben worden waren und die ihre Mutter für ihre zwei Töchter in die USA mitgebracht hatte. Die Autorin selber schreibt über diese Lektüre in ihrem essayistischen Buch[11], dass sie selbst auch eine ähnliche Lektüre als wahres Erlebnis wahrgenommen hat und dass sie sich auch damals gefreut hatte, dass es in Japan sowohl den etwa tausend Jahre alten glanzvollen Roman Genji Monogatari (Die Geschichte des Prinzen Hikaru Genji) von der berühmtesten japanischen Dichterin und Erzählerin Murasaki Shikibu (ca. 973 - ca. 1014), als auch die neuere Literatur seit dem Anfang der Meiji Ära (1868-1912) gibt. Vielleicht bezieht sich die Beschreibung der Autorin in ihrem essayistischen Buch, dass ihr drittes Werk (d.h. Ein authentischer Roman) eine Liebesgeschichte sei, aber eigentlich wie eine Fabel über die Anhänglichkeit an die Muttersprache zu lesen sei,[12] auf das Erleben dieser Lektüre.
2.2.1 Die intertextuelle Schreibweise in Mizumura Minaes Roman
Die Autorin Mizumura hatte bereits erfahren, dass Koyo Ozaki (1867-1903) seinen berühmten Unterhaltungsroman Konjiki Yasha unter Bezug auf das Werk Weaker Than a Woman von einer Engländerin namens Bertha M. Clay geschaffen hatte.[13] Mizumura wusste aber zuerst nicht, ob sie diese Art von intertextueller Technik, nämlich eine Art Nachbildung für ihren Roman, verwenden könne oder nicht. Aber sie wurde sich allmählich bewusst, dass man z.T. westliche Literatur mehr oder weniger nachgeahmt hatte, um die neuere japanische Literatur zu schaffen. Dieser Aspekt der Literaturgeschichte ließ sie die Vorgehensweise billigen, andere Texte mit veränderten Versionen und Stilen in die eigenen aufzunehmen. Sie hat sich von der Bedeutung dieser intertextuellen Technik überzeugen lassen.
In ihrem betreffenden Roman hat einer der drei ErzählerInnen, Yusuke Kato, der seit anderthalb Jahren als junger Angestellter bei einer kleinen Software-Firma in San Jose, einem Stadtteil von Silicon Valley arbeitet, der ersten weiblichen Erzählerin Minae Mizumura „eine Geschichte wie ein Roman“ aus Japan mitgebracht, als sie im Januar 1998 noch an der Stanford Universität als Gastprofessorin tätig war und in Palo Alto, dem Stadtzentrum von Silicon Valley, wohnte. Minae war es daraufhin unmöglich, die Geschichte über Taro Azuma, die sie als Offenbarung ansah, zu vergessen. Die tatsächliche Autorin Mizumura äußert sich über die Vorbildwirkung von Emily Brontës Wuthering Heights folgendermaßen: „Ich habe die Notwendigkeit jener Struktur verstanden. Eben weil es solche ErzählerInnen gibt, die den Geliebten gegenüber einen kritischen Abstand halten, kann der Roman von Emily Brontë die Leser faszinieren. Jene Struktur wurde ein wichtiges Muster für mein Werk ‚Honkaku Shosetsu (Ein authentischer Roman)“[14].
2.2.2 Mizumuras Intertextualität und Jelineks „Text-Rhizome“
Bei Mizumuras intertextueller Schreibweise geht es hauptsächlich um die Handlung. Anders ist dies im Werk von Elfriede Jelinek, wo man von Anfang an gute Beispiele für komplexe intertextuelle Texte finden kann, die z.T. einen großen Umfang haben. Zum Beispiel ist hier Jelineks Theatertext FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust (2011)[15] zu nennen. Zuerst ist die Autorin von einem entscheidenden Unterschied zwischen Goethes Urfaust und Faust I unverkennbar inspiriert worden. Während es nämlich am Ende des Faust I eine Zeile; „STIMME von oben. Ist gerettet!“ (Zeile 4611) gibt, fehlt diese entscheidende Stelle am Ende des Urfaust. Jelinek spielt auf die Abwesenheit dieser unerlässlichen Zeile mit der folgenden Textsequenz aus FaustIn an:
Ich kann sagen, meine Seele gehe wie in größter Not umher, sich selbst fragend und sprechend; Wo ist dein Gott? Sie erfährt es nicht. Merkwürdig. Als gäbe es jemand, der sich mir ohne mein Zutun ins Gedächtnis rufen könnte. Als wäre ich der Geist, der stets gerufen werden kann, nur um dann nein zu sagen! Ich bin schlaflos und wie ein einsamer Sperling auf dem Dach. Da wird Gott angerufen, da werden die Engel angerufen, da wechselt Gott den Provider, weil die Anrufe an ihn zu teuer sind, und zu leicht gerät man in ein fremdes Netz. Da ist er schon wieder, der Herr Gott, nur gibt ers diesmal billiger. [...] Während sie auf ihre Verbindung wartet, ist die Seele in einem Zustand, daß sie einerseits weder im Himmel ist, noch vom Himmel einen Trost erhält, und andererseits weder auf Erden ist, noch von der Erde einen Trost haben möchte. Sie schwebt also irgendwo wie gekreuzigt zwischen Himmel und Erde und leidet, ohne daß ihr von irgendeiner Seite Hilfe kommt. [...].[16]
Deshalb muss die Figur FaustIn einerseits immer im Keller von ihrem eigenen Vater, dessen Vorbild augenscheinlich Josef Fritzl ist, eingesperrt leben und nähert sich der Hölle immer stärker an. Andererseits muss betont werden, dass die FaustIn selber teilweise eben dieselben Texte spricht, wie sie von Margarete bzw. Gretchen und darüber hinaus auch von Faust selbst im Urfaust und im Faust I gesprochen werden. Zum Beispiel erinnert uns der oben zitierte Text „der Geist, der stets gerufen werden kann, nur um dann nein zu sagen“ an Mephistopheles. Der Name FaustIn funktioniert „in and out“.[17]
Außerdem steht der Name Gretchen bzw. Margarete stellvertretend für viele weibliche Opfer von Mephistopheles und den Nazis oder auch für die Töchter von Josef Fritzl und die vielen übrigen Opfer anderer Einsperrungsfälle von Gewaltverbrechern. Ein zweiter Geist aus FaustIn and out verweist auf eine weitere Referenz: „dein goldenes Haar, Margarete“ ertönt mehrmals wie einen Refrain,[18] und denkt bereits die letzte Zeile aus Paul Celans Gedicht Die Todesfuge mit, in der es da heißt: „dein aschenes Haar Sulamith“. Mit dem Namen Sulamith assoziieren wir die unaussprechlich furchtbare Tat der Nazis. Das Drama erzielt durch diese Technik eine Vielzahl von Effekten.
In einem weiteren Theatertext, KEIN LICHT. (2011)[19], sowie in Epilog? (2012)[20] schafft Jelinek ihre „Text-Rhizome“ aus mehreren Diskursen, indem sie z.B. aus dem René Girards Text Ein gefährliches Gleichgewicht. Versuch einer Deutung des Komischen[21], aus Spürhunde von Sophokles, aus den Reportagen über Fukushima und aus rein naturwissenschaftlichen Theorien, z.B. dem Vorgang der elektrischen Leitung, dem β-Zerfall oder der Kombinationen der Elementarteilchen, die sich alle auf den atomaren Super-Gau beziehen,[22] zitiert. Diese „Text-Rhizome“ von Jelinek gelten als poetische Hommage und Kondolenz, mit denen sie den Tsunami-Opfern huldigt. Dabei bezieht sich Jelineks Drama sowohl auf das Weinen, als auch auf das Lachen. Girard schreibt über das Lachen etwa: „Er (Baudelaire) versteht das Lachen in einem pascal‘schen Licht als Zeichen eines Widerspruchs, als Zeugnis für das ‚unendliche Elend‘ und zugleich die ‚unendliche Größe‘ des Menschen.“[23] Jelinek vertieft die Existenz der Menschheit in der Natur innerhalb ihres Dramas, indem sie mehrmals aus Girards Erörterung über den Mechanismus vom Weinen und Lachen zitiert.
2. 2. 3 Das Vierecks-Verhältnis im Roman Sturmhöhe
Die tabuisierte Liebesgeschichte entwickelt sich hauptsächlich zwischen drei Figuren. Die Gespanntheit dieses Drei- bzw. Vierecksverhältnisses basiert auf dem leicht cholerischen Temperament von Catherine Linton (geb. Earnshaw), auf der Verschlossenheit und halb gezähmten Wildheit von Heathcliff, die durch dessen Misshandlungen durch den noch viel aufbrausenderen Bruder Catherines, Hindley Earnshaw, entstanden war. Außerdem wollte Catherines Ehemann, Edger Linton, das Verhältnis zwischen Heathcliff und Catherine nicht ertragen, als Heathcliff nach seinem dreijährigen Verschwinden wieder bei ihnen auftauchte. Als Kind war Heathcliff von seinem Finder, dem Vater der Geschwister der Earnshaws, auf der Strumhöhe erzogen worden. Die wichtige Erzählerin, das Hausmädchen Ellen (Nelly) Dean, erzählt dem jetzigen Vermieter von Thrushcross Grange, Lockwood:
Wie nun das volle Licht des Feuers und der Kerzen auf Heathcliff fiel, war ich überrascht, ihn so verändert zu sehen. Er war ein großgewachsener, kräftiger wohlgebildeter Mann, neben dem mein Herr fast schmächtig aussah. Seine aufrechte Haltung legte den Gedanken nahe, daß er in der Armee gedient hatte. Sein Gesicht schien durch Ausdruck und Festigkeit der Züge bei weitem älter als Mr. Lintons. Es war intelligent und wies kein Zeichen früherer Erniedrigungen auf; dennoch glühte die alte, nur halbgezähmte Wildheit aus den schwarzfeurigen Augen. Sein Benehmen aber war geradezu vornehm zu nennen – ganz frei von Derbheit, obschon zu ernst, um entgegenkommend zu sein.[24]
Eigentlich ist Edgar Linton durch Zartheit, Mäßigung und Enthaltsamkeit charakterisiert. Seine Schwester Isabella verhält sich anscheinend wie eine Tochter aus gutem Haus. Aber beide brechen auch in Zorn aus, wenn es um die gegenseitige, tief verwurzelte, teilweise egoistische Liebe zwischen Catherine und Heathcliff geht. Als Catherine Ellen Dean sagte, dass sie wegen des Geldes Edgar Linton heiraten wolle, wenn sie auch Heathcliff so sehr liebe, als würden sich seine und ihre Seele völlig gleichen, ging Heathcliff weg. Heathcliff hatte alles mit angehört und als Catherine ihm auch direkt sagte, dass es sie herabwürdigen würde, ihn zu heiraten, ging er hinaus. Wenn auch ihre gegenseitige Liebe sehr stark war, kam der Zeitpunkt, an dem sich Heathcliff entschloss, Edgers Schwester Isabella zu heiraten. Die Intervention Isabellas in das bisherige gespannte Verhältnis zwischen Catherine, Heathcliff und Edgar führte zu weiteren Komplikationen. Außerdem besteht dieser Roman nicht nur einfach aus den teilweise sehr kritischen Bekenntnissen des Hausmädchens, Ellen (Nelly) Dean, sondern auch aus Gesprächen, die die pluralischen „Ichs“ nebeneinander stellen. Diese komplexe Romanstruktur[25] verstärkt die Spannung des Romans, wie Mizumura 2002 in einem Sonderinterview angemerkt hat.[26]
2. 3. Der Spannungsaufbau im Roman
2. 3.1 Das Vierecks-Verhältnis im Ein authentischer Roman
Im Vergleich mit dieser leidenschaftlichen Liebesgeschichte im Dreiecks- bzw. Vierecksverhältnis in Sturmhöhe sind Mizumuras Figuren scheinbar viel milder, enthaltsamer, moderner geschildert, vor allem, was deren Leidenschaft betrifft. Dieser Eindruck basiert möglicherweise auf der Absicht der Autorin, ihre Figuren durch ihre Ausdrucksweise zu charakterisieren. Der Grund dafür ist, dass sie diese Liebesgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht nur ins 20. Jahrhundert versetzt, sondern auch als Vierecks-Verhältnis von in Japan und in Amerika lebenden JapanerInnen umgeschrieben hat.
Mizumura gestand 2002, dass ihr der erste Entwurf für diese Liebesgeschichte, den sie in der „normalen“ Darstellungsweise zu schreiben anfing, gar nicht gefiel, weil er der heutigen üblichen, uninteressanten Schreibweise gefolgt war.[27] Die Autorin fand den Entwurf gar nicht faszinierend und er schien ihr den Lesern gegenüber keine Anziehungskraft zu besitzen. Vermutlich war ihr dann wohl ihr zweiter Roman from left to right (1995) eingefallen. Die Figur Minae, Doktorandin an der Yale Universität, und ihre ältere Schwester Namie, angehende Bildhauerin in New York, sprechen darin telefonisch miteinander über ihr schwieriges, einsames Leben in Amerika. Weil sie in diesem autobiographisch geprägten „Ich-Roman“ einmal auf Japanisch, einmal auf Englisch schreibt, liest man die Zeilen „from left to right“.[28] Wenn man dieses Werk liest, wird es fast auf jeden Leser den Eindruck machen, dass die Autorin hier autobiographisch geschrieben habe, weil die echten Namen der auftauchenden Figuren verwendet werden.
Vielleicht strebte Mizumura diesen Eindruck der Leser auch in ihrem neuen Roman an. Sie versucht nämlich, zwei „scheinbar“ antagonistische Romanformen für die Leser als Trick zu verbinden. Die erste Romanform ist der Ich-Roman bzw. Minae Mizunumas Autobiographie. Die zweite ist die tabuisierte lange Liebesgeschichte um Taro Azuma (geboren 1947), Yoko Utagawa (vermutlich geboren 1948 oder 1949), ihren Mann Masayuki Shigemitsu (geboren 1947) und Fumiko Tsuchiya (geboren 1937). Es geht hier scheinbar um ein Dreiecksverhältnis, aber es stellt sich in der Tat als ein Vierecks-Verhältnis heraus, weil es einmal eine Liebesbeziehung zwischen Taro und Fumiko, eine der ErzählerInn, gab. Fumiko verschwieg dem dritten Erzähler Yusuke Kato dieses Geheimnis, aber die Beziehung hatte tatsächlich ein halbes Jahr gedauert, bevor Taro mit dem Schiff nach Amerika aufbrach.
Zur ersten Romanform gehört ein langer Anfangsteil und eine kurze Vorrede der Ich-Erzählerin Minae Mizumura für diese erste Romanform ohne Kapitelnummern. Die zweite Romanform mit 898 Seiten ist in 10 Kapitel und Minaes zweiseitiges, kurzes Nachwort unterteilt. Der zweite Teil beginnt zu einer Zeit, als Taro und Yoko noch klein waren. Die VolksschülerInnen Taro und Yoko wohnten damals nebeneinander; Yoko in einem größeren Haus als Tochter eines Professors für Medizin, Taro in einem schäbigen Mietshäuschen dahinter mit seinen armen Pflegeeltern und ihren zwei Söhnen. Der Besitzer des Häuschen ist Yokos Vater. Taros echte Mutter soll eigentlich die Schwester seines Pflegevaters sein, aber sie soll schon bei seiner Geburt im Jahr 1947, zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Manshu, China, gestorben sein. Taros Vater soll laut Gerüchten seiner Pflegemutter Chinese sein. Fumiko und Yokos Großmutter (eigentlich war sie die gutmütige Stiefmutter von Yokos Vater) waren damals Augenzeuginnen, als der neunjährige Taro von den zwei größeren Brüdern und der Pflegemutter während der Abwesenheit seines Pflegevaters Azumas dauernd geprügelt und angebrüllt wurde. Bald darauf durfte Taro jeden Tag direkt nach der Volksschule die Utagawas besuchen, wurde von den beiden Frauen im Yokos Haus behandelt und pflegte mit Yoko nach der Jause zusammen zu lernen und zu spielen.
Die pubertären Yoko und Taro haben sich hauptsächlich in der Bergvilla von Yokos Vater, in Shinano-Oiwake, in der Nähe des Ferienorts Karuizawa, Präfektur Nagano, heimlich getroffen und begannen als Vertreter zweier unterschiedlicher sozialer Schichten eine tabuisierte Liebe. Dabei haben sie sich miteinander brieflich verabredet. Aber Yokos Äußerung bereitete Taro eines Tages eine bittere Enttäuschung. Sie sagte ihm, dass sie ihn nicht heiraten könne, weil er als Bräutigam einen schäbigen Eindruck auf ihre Verwandtschaft machen würde. Das war der Hauptgrund dafür, dass Taro mit einem Frachtschiff nach Amerika fuhr, nachdem er zuvor ein halbes Jahr – meist betrunken – in Fumikos enger Wohnung verbracht hatte, während diese bei einer kleinen Firma arbeitete.
1982, 15 Jahre später, erhielt Fumiko zum ersten Mal einen Telefonanruf von Taro, der Karuizawa besuchte. Milliardär Taro wurde jetzt der neue Besitzer von jener Bergvilla. Statt des zögernden Taro ruft Fumiko endlich Yoko an, um ihr mitzuteilen, dass Taro zur Zeit in Oiwake ist. Mit Yokos Wiedersehen mit Taro in Oiwake fing Yokos Liebesbeziehung mit Taro an. Etwa acht Jahre zuvor hatte Yoko Masayuki Shigemitsu geheiratet. Masayuki gab Yoko seine Erlaubnis zum Umgang mit Taro. Diese tabuisierte Liebe war von einem wundersamen Gleichgewicht geprägt. Die beiden Männer richteten sich nach Yokos Willen und Absicht. Anders als Catherine in Sturmhöhe hat Yoko einen sanften Charakter, ist aber etwas egoistisch. Sie hält es für selbstverständlich, von den beiden Männern geliebt zu werden. In diesem Sinne übt Masayuki am meisten Mäßigung. Das Paar besuchte öfter Amerika, um Taros übergroße Villa in Long Island luxuriöser zu renovieren, Masayuki als Architekt und Yoko als Innenarchtektin.
Wenn dieser Roman nur aus der Handlung der oben dargestellten Liebesgeschichte bestünde, würde er, wie Mizumura 2002 in dem bereits mehrfach erwähnten Interview gestand, nur der heute üblichen uninteressanten Schreibweise folgen.
Deshalb habe ich den Eingang des Romans mit meiner eigenen Geschichte in Amerika angefangen. Ich glaubte, dass der Roman auf diese Weise viel interessanter würde. Ich hatte auch viel Spaß, während ich ihn schrieb. Gleichzeitig dachte ich, wenn die Leser in dem Buch einmal den Namen ‚Minae Mizumura‘ finden, können sie den Teil der Liebe eben nicht in jedem Sinne als ‚Ich-Roman‘ lesen und werden dazu gezwungen, ihn als ‚authentischen Roman‘ zu interpretieren.[29]
Aus diesen Aussagen könnte man schließen, dass es für die Autorin unbedingt nötig ist, der Darstellung des Liebesromans „die Macht der Wahrheit“ bzw. eine gewisse Spannung und Glaubwürdigkeit zu verleihen und die Form des Ich-Romans als Ergänzung zu dem Liebesroman zu verwenden. Die japanische Art des „Ich-Romans“ hat man von Taisho Zeit (1912-1926) bis heute häufig gebraucht. Diese Romane haben oft einen sehr stark autobiographischen Charakter, weil man darin Wirklichkeit und Fiktion frei gemischt darstellen kann. Es erscheint daher plausibel, dass Mizumura der Meinung war, durch den Trick der Benutzung des Ich-Romans aus diesen zwei Romanformen einen konsequenten „authentischen Roman“ schaffen zu können.
2.3.2 Taro Azuma und „Minae“
Die Ich-Erzählerin Minae in der ersten Romanform ist mit 12 Jahren mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Nanae nach Amerika übergesiedelt, weil ihr Vater als Filialleiter einer japanischen Firma ausgewählt und von Tokyo nach New York versetzt worden war. Sie wohnten in einem weißen Kolonialstilhaus in Long Island, einer Vorstadt von New York. Dies, ebenso wie die spätere Laufbahn der Erzählerin Minae Mizumura, stimmen völlig mit der Autobiographie der echten Autorin überein.
Als Minae High School-Schülerin war, begegnete sie einem schönen, großen jungen Japaner namens Taro Azuma. Eigentlich stammte dieser Junge aus einer sehr armen Familie, wollte aber trotzdem in Zukunft Medizin studieren. Aber er musste den High School-Besuch auf halbem Weg unterbrechen. Damals, als Minae Taro Azuma begegnete, war er etwa 20 Jahre alt und arbeitete in New York als Chauffeur für einen wohlhabenden Amerikaner, der ein Bekannter ihres Vaters war. Eines Nachts kam ihr Vater mit Taro Azuma nach Hause zurück. Taro hatte ihn mit der Limousine nach Hause gebracht. Ihr Vater hat ihm bei dieser Gelegenheit einige Lernmaterialien für Englisch ausgeliehen. Der gescheite Taro hat daraufhin selbst konzentriert Englisch gelernt und innerhalb von ein, zwei Monaten dem Vater alles zurückgegeben. Minae erfährt von ihrem Vater, dass Taro alles auswendig gelernt habe. Ihr Vater stellte Taro daraufhin als Mechaniker in seiner Filiale ein. Dann hat Taro ein paar Mal mit seinen Kollegen der Firma Minaes Haus besucht. Die Angestellten nannten die Tochter ihres Filialleiters bei ihrem Vornamen zusammen mit dem Suffix „-chan“, weil sie Minae schon als kleines Mädchen kennengelernt hatten. Dieses Suffix benutzen Erwachsene gegenüber Kindern, oder es wird zwischen Kindern und FreundInnen als Zeichen der Vertrautheit verwendet. Eines Tages nannte auch Taro die Ich-Erzählerin als High School-Schülerin Minae-chan, wie die anderen Kollegen. Als „Minae zum ersten Mal von Taro so angesprochen wurde, geriet sie etwas in Verlegenheit und Erstaunen.
Erst wenn die Leser die spätere Liebesgeschichte lesen, verstehen sie vielleicht, dass sich diese Anrede auch auf Taro Azumas Erinnerung an seine Kindheit mitsamt seiner kleinen Freundin in der Volksschule, Yoko Utagawa bezieht. Damals hörte Taro als Kind immer, dass eine der ErzählerInnen, Fumiko Tsuchiya, die beiden Kleinen immer Taro-chan und Yoko-chan nannte. Das ist eventuell eine zarte Andeutung auf die spätere Entwicklung der Geschichte.
Es gibt noch eine weitere, wichtige Vorwegnahme der späteren langen Liebesgeschichte. Die entscheidende Szene ereignet sich in Minaes Zimmer im Haus in Long Island. Als Minae noch High School-Schülerin war, bat ihre Mutter den großgewachsenen Taro Azuma nach der Weihnachts-Party darum, dass er die durchgebrannte Birne an der Decke von Minaes Zimmer austauschen solle. Als er zusagte, spürte Minae etwas Unruhiges. Es schien ihr, als ob seine Antwort von einem leisen Zögern begleitet würde. Nach dem Austausch der Birne fand Taro in Minaes Zimmer „Sammelbände der Weltliteratur für Mädchen“ in Japanischer Übersetzung. Taro sagte ihr daraufhin lächelnd: „Das habe ich früher auch gelesen“. Eine Weile später, als Taro die Seiten umschlug, als wäre er in Selbstvergessenheit geraten, fragte er sie, ob sie eine jüngere Schwester habe. Als Minae verneinte, sagte er nach einem kurzen Schweigen, dass es in seinem Haus in der Heimat keine Bücher wie diese gegeben habe. Erst später können die Leser vermuten, dass Yoko und ihre Schwester Yuko ihre eigenen Sammelbände der Weltliteratur für Mädchen gehabt haben mussten, auch wenn dies nirgends geschildert ist. Mann kann spekulieren, dass der kleine Taro diese Bücher in Yokos Haus gelesen hat.
Mit dieser subtilen Darstellung der Szene verbindet die Autorin beide Romanformen durch seine Erinnerung an ein bestimmtes Mädchen, d.h. Yoko, das erst in der langen Liebesgeschichte als Heldin auftritt. Die Saegusas, wo Yokos Mutter geboren ist, und die Shigemitsus, die dem sozialen Rang nach höher als die Saegusas standen, hatten zwei angrenzende Sommervillen in Karuizawa. Dort arbeitete Fumiko mit anderen Kolleginnen jeden Sommer als Hausgehilfin. Einen Sommer wurde Taro als kleiner Junge von Yokos Großmutter dorthin gebracht, aber der kleinere Junge Taro wurde dort von den beiden Familien wie ein Diener behandelt. Außerdem musste er viele Birnen in den zwei Villen austauschen. Taro Azuma vergisst nie, dass er dabei von der ältesten der drei schönen Schwestern der Saegusas beleidigt wurde. Die Älteste hieß Harue Saegusa und die zweite Schwester war Natsue Utagawa, Yokos Mutter. Die jüngste hieß Fuyue, eine ledige Klavierlehrerin.
Die Aufforderung von Minaes Mutter in New York brachte den bereits erwachsenen Taro vermutlich die frühere Beleidigung von jenen Schwestern in Erinnerung. Deshalb las Minae ein leises Zögern und eine gewisse Abneigung aus dem Gesichtsausdruck des erwachsenen Taros ab. Diese Darstellungsweise erinnert uns an eine Schachtelkonstruktion. Es ist eine Strategie der Autorin, in die größte Schachtel aus der Quasi-Autobiographie etwas kleinere Schachteln aus einigen Episoden der Liebesgeschichte – eine nach der anderen – hinzuzufügen. Die Autorin erreicht einen wundersamen Effekt, indem sie, die Distanz von Zeit und Raum überschreitend, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Yokos und Minaes Familie hervorbringt. Das ist eine sehr gelungene Weise, um die beiden Romanformen zu verbinden.
2. 3. 3 „Der Name Taro Azuma ist ein echter Name“
Nicht nur dieser Ähnlichkeitseffekt deutet den Lesern die Beziehung der beiden Romanformen an. Auch die Existenz Taro Azumas in Minaes autobiographischer Geschichte in den USA verstärkt „die Macht der Wahrheit“ des Romans. Vor allem kann Minaes Bekanntschaft mit Taro Azuma die Leser leicht glauben machen, dass ihre Bekanntschaft Wirklichkeit sei, weil sie in ihrer Autobiographie beschrieben ist. Der anfängliche autobiographische Teil, in dem Taro Azuma als Minaes Bekannter dargestellt wird, hilft der Autorin, die spätere Liebesgeschichte von Taro Azuma und Yoko Shigemitsu (geb. Utagawa) glaubhafter zu machen und damit die beiden Romanteile zu verbinden. Dazu brauchte Minae ihre Behauptung „Der Name Taro Azuma ist ein echter Name“. Als sie sich entschieden hat, seine Geschichte zu schreiben, heißt die letzte Passage der ersten langen Romanform wie folgt: „Der Name Taro Azuma ist ein echter Name. Seit dem Abend, an dem ich den Namen zum ersten Mal von meinem Vater gehört habe, verbinde ich in meinem Gedächtnis allerlei Dinge, die sich auf ihn beziehen, mit diesem Namen, und ich habe keine Lust gehabt, einen anderen Namen zu benutzen“[30]. Wenn man diese Sätze unkonzentriert liest, bemerkt man kaum, welchen Effekt die Autorin mit der betonten Beschreibung dieser Passage erzielt. Wenn man darüber nachdenkt, will man diesen Roman noch einmal lesen. Diese Faszination beruht auf der Verbindung zweier Romanformen. Es gibt noch mehrere andere Sätze, die die Autorin als Wahrheit darstellt, die man aber nicht für bare Münze nehmen darf.
Eben weil die Figur Taro Azuma eine Fiktion in der Quasi-Autobiographie ist, kann die Autorin paradoxerweise ihren realistischen Roman bilden und „Die Macht der Wahrheit“ erwerben. Wenn die Leser andererseits die oben zitierte Passage für richtig halten, entsteht in ihren Köpfen, aufgrund der Verbindung der beiden Romanformen d.h. von Minaes Autobiographie und „der von Yusuke mitgebrachten Liebesgeschichte“, konvergierend eine als wahre Geschichte empfundene konsequente Biographie der Person Taro Azuma. Wenn die Leser die Behauptung, dass der Name von Taro Azuma echt ist, akzeptieren, gelingt Minae ebenso wie der echten Autorin ein authentischer Roman mit „der wahren Kraft“ (Mizumura, 2002, S. 230-232).
2. 3. 4 Weitere Methoden, um die Spannung zu erhöhen
Die Autorin hat im ersten Teil des Romans in ihre eigene Autobiographie einige plausible Figuren geschickt eingeschoben. Aber sie sah sich Schwierigkeiten gegenüber, als sie den authentischen Roman auf Japanisch schreiben und ihm „die wahre Kraft“ geben wollte. Ein Problem lässt sie Minae äußern: „Warum die Art des Ich-Romans in der japanischen Sprache einfacher als beim authentischen Roman die Macht der Wahrheit erwerben kann“ (Mizumura, 2002, S. 230-231). Minae schreibt deutlich; „ich weiß die Antwort darauf nicht“. Doch fällt ihr zugleich nur ein Gedanke ein; „Vielleicht besteht ein Grund dafür irgendwie in der Struktur der japanischen Sprache“ (Mizumura, 2002, S. 230). Wie bereits erwähnt, dient die im Roman von Yusuke Kato mitgebrachte Liebesgeschichte u.a. dazu, die Authenzitität der Existenz Taro Azumas zu verstärken. Minae hat sie im Januar 1998 von einem jungen Unbekannten, Yusuke Kato, erfahren, der Minae plötzlich in Palo Alto besucht. Die Angabe des Datums und von Minaes Arbeitsplatz erhöht die potentielle Authentizität. Yusuke arbeitete früher ein paar Jahre in einem berühmten Verlag in Japan, obwohl er Physik studiert hatte. Er besuchte sie, nicht um mit der Schriftstellerin Minae ein Interview zu machen, sondern weil er ihr von Anfang an eine Geschichte erzählen will, die er im Sommer 1995 von Fumiko Tsuchiya in Shinano-Oiwake, in der alten Bergvilla des jetzigen Besitzers Taro Azuma, erfahren hatte. Yusuke will ihr unbedingt diese Liebesgeschichte erzählen, um seine seelische Ruhe und Gesundheit wiederfinden zu können.
In jenem Sommer 1995 hatte Yusuke eine Woche Urlaub in der Villa seines Freundes in Karuizawa verbracht. Eines Nachts in jenem Sommer war er zufällig mit dem Fahrrad seines Freundes an dem Tor dieser alten bescheidenen Bergvilla vorbeigefahren. Dabei war er mit dem Fahrrad umgefallen und Fumiko half ihm beim Behandeln der Wunde an seinem Arm. Als er dort in dem Schuppen übernachtete, war ihm ein Geist in der Gestalt eines kleinen Mädchens erschienen, das einen Sommerkimono mit einem roten Karpfenmuster trug und nach draußen gelaufen war. Unmittelbar danach dann sah er auch Taro Azuma, der nach 16-jährigem Aufenthalt in Amerika öfter Japan besuchte, plötzlich nach draußen rennen, um dieser Erscheinung zu folgen. An einem anderen Tag, als Taro Azuma nicht in der Bergvilla war, erfuhr Yusuke eine „lange, lange Liebesgeschichte“ (Mizumura, 2002, S. 399) von Fumiko. Als er ihr dabei mitteilte, dass er die Erscheinung eines kleinen Mädchens gesehen hatte, murmelte Fumiko mit ausdruckslosen Augen vor sich hin, dass das Mädchen schon gestorben sei. Yusuke fühlte sich seitdem irgendwie nicht wohl, auch nachdem er im September 1996 nach San Franzisco umgezogen war. Das sonderbare Erlebnis in jener Woche erschien ihm ein Traum gewesen zu sein. Außerdem hinterließ Taro Azuma bei Yusuke einen bleibenden Eindruck, als er damals im Sommer 1995 in der Bergvilla in Shinano-Oiwake von Taro gefragt wurde, ob er die Autorin Minae Mizumura kenne. Daran anschließend sagte Taro kurz, dass er die Person früher persönlich kannte. Yusuke erinnert uns an Rockwood, den zweiten Erzähler in Sturmhöhe, der in dem Roman ebenfalls eine furchtbarere Erscheinung, in diesem Fall Catherines, erlebt. Die Autorin Mizumura unterstreicht Yusukes gespannten psychologischen Zustand und erhöht die Spannung durch die ausführliche Beschreibung seiner wundersamen Geschichte.
Taro Azuma kann man mit Heathcliff vergleichen, wenngleich Emily Brontё ihn nur drei Jahre verschwinden ließ. Auch beschreibt sie nur kurz, wo Heathcliff viel Geld erworben hat, im Gegensatz dazu steht Azuma Taros 15-jährige Abwesenheit von Japan. Er hat in New York die Tocher seines Filialleiters Minae auf Partys der Firma oft gesehen und gesprochen. Minae erzählte ihm nichts über ihre Zukunft an der Universität. Sie konnte sich die Möglichkeit des Umgangs mit Taro nicht vorstellen. Aber diese Beschreibung der Ich-Erzählerin erscheint etwas zu enthaltsam gewesen zu sein, zieht man etwa die Szene des Gesprächs am Strand zwischen Minae und Taro heran. Sie haben die Gelegenheit für eine mögliche Liebesbeziehung nicht wahrgenommen. Bald darauf verließ Minae einfach ihr Elternhaus, um die Universität zu besuchen – vielleicht ohne an ihm zu hängen. Inzwischen hat Taro Azuma die Firma verlassen und ist innerhalb der folgenden 10 Jahre durch den selbständigen Verkauf optischer Instrumente, vor allem Magenkameras, verschiedener Investitionen und das Unterstützungsgeschäft für joint ventures in den USA Milliardär geworden. Daher kennen ihn alle Japaner in New York. Im Laufe des Aufenthaltes von Minaes Familie in New York entfernte sich die Familie von Taro allmählich und Minae hatte keinen Kontakt mehr mit ihm. Während Taro in dieser Zeit sehr reich wurde, wurde Minaes Vater krank und die Eltern kamen nach einem 20-jährigen Aufenthalt in Amerika ziemlich heruntergekommen nach Japan zurück. Inzwischen erwartete Minae ihre mündliche Doktorprüfung für Französische Literatur an der Yale Universität. Nachdem sie im Anschluss daran zwei Romane in Japan geschrieben hatte, nahm sie verschiedene Einladungen zu Lehrtätigkeiten in den USA an. In Princeton lehrte sie als Dozentin, zweimal war sie an der Michigan Universität als Assistenzprofessorin und einmal an der Stanford Universität als Gastprofessorin für neuere japanische Literatur tätig. Außer Minaes flüchtigem Umgang mit Taro entspricht ihr Lebenslauf exakt dem der echten Autorin, Minae Mizumura. Daran anschließend wurde Minae allerdings von Mrs. Kohen, der früheren Sekretärin ihres Vaters, über Taros Karrieregeschichte in Amerika und über seinen enormen Reichtum informiert. Sie besuchte Minae jedes Mal, wenn diese zur Lehrtätigkeit nach Amerika kam. Aber dann erfuhren die beiden davon, dass Taro Azuma im Jahr 1995 bzw. 1996 plötzlich spurlos in New York verschwunden war.
Die implizierte Fabel, wonach die Ärmsten später Milliardär werden, birgt Spannung. Schilderungen wie: „Als Taro mit neun Jahren mit der Familie seiner Pflegeeltern in das Häuschen [...] eingezogen war, sah Fumiko [...] mit eigenen Augen zufällig vom Garten aus eine bettelarme Familiengruppe“ (Mizumura, 2002, S. 571-572) schockiert die Leser nicht weniger als die Worte der Ellen Dean, als der kleinen Heathcliff nach Hause mitgebracht wurde: „Wir drängten hinzu, und über Miß Cathys Kopf hinweg gewahrte ich ein schmutziges, zerlumptes, schwarz-haariges Kind, das groß genug war, um gehen und sprechen zu können“[31]. Außerdem behandelt die Autorin Mizumura Taros Leben, bevor dieser die steile Karriere empor zu klettern begann, weit ausführlicher, als Brontё dies bei Heathcliff tut – vermutlich auch um dem Roman Spannung zu verleihen2. 4 Die sozialen Verhältnisse
2. 4. 1 Klassenunterschiede als Problem
Obwohl Fumiko ein sehr gescheites, intelligentes Mädchen war, konnte sie wegen der Armut ihrer Eltern nur die Mittelschule besuchen. Mit 17 Jahren wurde sie Hausmädchen bei den Utagawas in Tokyo. In Japan gab es bis in die 1960er Jahre hinein viele intelligente Menschen, die wegen armer Familienverhältnisse nicht auf die Universität gehen konnten, wie im Fall von Taro Azuma. Als Taro als Kind in jenem Sommer von Yokos Großmutter nach Karuizawa mitgebracht wurde, hatte er sicher erwartet, dort zusammen mit Yoko wie zu Hause in Tokyo zu spielen, aber er hat dort nur eine unsichtbare Wand der Klassenunterschiede gefunden. Außerdem zeigte vor allem Harue, die älteste der drei Saegusa-Schwester, Taro gegenüber ein besonders starkes diskriminierendes Klassenbewusstsein.
Jene kleine unscheinbare Bergvilla in Shinano-Oiwake hatte Yokos Vater, Takero Utagawa, für sich selbst und seine Stiefmutter, Yokos Großmutter, gebaut. Utagawa als intelligenter, vernünftiger Professor hegte sowohl gegenüber Spießbürgern wie den Saegusa-Schwestern, als auch gegen Diskriminierung eine Abneigung und hatte in den Bauplan der kleinen Villa sogar die Meinung und den Wunsch des kleinen Taros aufgenommen. Während Yokos Vater, seine Stiefmutter und gelegentlich auch Taro in der unscheinbaren Bergvilla ruhige Sommertage verbracht haben, haben die Saegusas mit Yoko und ihrer ältere Schwester Yuko und die Shigemitzus jeden Sommer in den zwei luxuriösen Villen in Karuizawa ein bürgerliches Luxusleben in europäischer Weise genossen. Den Haushalt ließen sie sich dabei von Hausgehilfinnen führen. Anders als bei den Saegusa-Schwestern kann man die Vornehmheit von Yayoi Shigemitzu und ihrem Sohn Masayuki leicht anhand ihres Benehmens ablesen. Masayuki absolvierte nach einem Architektur-Studium in Japan den Magister-Kurs an der Yale Universität.
2. 4. 2 Die Umkehrung der sozialen Stände
Nach einem glücklichen Leben mit Masayuki plus Taro ist Yoko allerdings Ende 1992 gestorben. Als die drei Geschwister der Saegusas das Paar Yoko und Taro zufällig am Bahnhof sahen, war Taro im Begriff, wieder nach Amerika zurückzufliegen. Laut Fumiko verschwand Yoko gleich danach spurlos, weil ihr Masayuki schlechtes Benehmen vorgeworfen hatte. Die drei Schwestern verrieten Masayuki. Die Suche Fumikos und Masayukis blieb erfolglos. Letzten Endes entdeckte sie Taro, der in aller Eile wieder von New York nach Japan zurückgeflogen war, und Yoko starb im Krankenhaus. Aus der Erzählung Fumikos könnte man möglicherweise erraten, dass sie das Dachzimmer, wo Yoko schwer krank dahinvegetierte, absichtlich nicht durchsucht hatte. Die Autorin macht es an diesem Punkt bis zum Ende spannend.
Der Milliardär Taro verliert seine Geliebte schlussendlich ebenso, wie Heathcliff in Sturmhöhe Catherine. Sowohl Taro, als auch Heathcliff konnten früher wegen ihrer Armut die Geliebte nicht heiraten. Dabei konnte Liebe die Armut nicht übertreffen. Umgekehrt konnte ihr Reichtum später das Glück mit der Geliebten eine Weile aufrechterhalten. Anders als früher kann man heute Klassenunterschiede mit viel Geld zumindest teilweise ausgleichen,[32] aber man kann das Klassenbewusstsein in den Köpfen nicht so rasch aufheben. Letztlich wurde das Glück von Taro und Yoko durch das Klassenbewusstsein von Yokos kleinbürgerlichen Verwandten vernichtet. Heutzutage scheinen ökonomische Rangunterschiede wichtiger, doch die verschiedenen sozialen Verhältnisse zeigen, dass das Klassenbewusstsein noch immer nicht vollständig beseitigt ist. In diesem Sinne ist der Tabubruch unerlässlich. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass es Tabus gibt, die eine prekäre Seite enthalten, die man nicht unterschiedslos verwerfen sollte, vor allem, wenn es sich um Tabus handelt, die einer Gesellschaft keinen Schaden verursachen.
3. Tabubruch Sexualität
3. 1 Gender / Identität
Es gibt in Japan heute kaum noch ein starkes Tabu-Bewusstsein,[33] was das Thema der Sexualität in der Literatur betrifft. Die JapanerInnen haben heutzutage auch fast kein klares Tabubewusstsein mehr gegenüber homosexellen bzw. lesbischen Leuten, weil sie als starke Charaktere in vielen TV-Talkshows auftreten. Die Zuschauer haben erkannt, dass sie die Fähigkeit haben, über interessante Dinge zu sprechen oder vernünftige Anschauungen aus anderen Blickwinkeln aufzeigen. Aber die Heterosexuellen kennen manchmal die tatsächliche Problematik dieser Homosexellen nicht genau. Die Schriftstellerin Rieko Matsuura (*1958) thematisiert die Welt der Sexualität aus ihrer eigenen Perspektive. In dem Roman Oyayubi P no Shugyo Jidai (Wanderjahre der großen Zehe P)[34] behandelt sie die Probleme der sexuellen Identität. Matsuura stellt dieses Thema in ihren Werken ohne Vorurteile dar. Sie erfindet die Geschichte um den Penis, der aus der rechten großen Zehe von der Heldin plötzlich erschienen ist. Die Heldin „Ich“ ist Studentin und hat einen Freund, der blind ist und Musiker. Mit ihm kann sie still ein problemloses Leben führen. Als Mitglieder einer Gruppe namens „Flower Show“ präsentieren die beiden einem reichen Publikum sexuelle Darbietungen. Aufgrund ihrer körperlichen Besonderheit lernt die Heldin so allmählich die Sexualität sowohl vom männlichen, als auch vom weiblichen Standpunkt aus kennen. Inhaltlich erinnert der Roman an Judith Butlers Ausführungen in Gender Trouble. Matsuuras Erzählstil erzeugt eine stille Atmosphäre und ist leicht zu lesen. Sie verwendet nicht so geschickte Metaphern für ihr Werk, wie das etwa Elfriede Jelinek in ihrem Roman Lust beherrscht. In der Erzählung Kika (Seltene Ware) (2012) [35] schreibt Matsuura über das Zusammenleben einer jüngeren Frau, die lesbisch veranlagt ist, mit einem 45-jährigen Mann, der wegen seiner Diabetes kein Interesse mehr an Sex hat. Doch fängt er allmählich an, die Frau um die Freundschaft mit ihrer Freundin zu beneiden und ihnen vom Nebenzimmer aus zuzuhören. Die Frau gesteht ihrer Freundin, große Schwierigkeiten bei der Suche nach einer lesbischen Partnerin zu haben.
3.2. Bekannte Schriftstellerinnen schreiben über die Liebe im Alter als Tabubruch
3. 2. 1 Der Roman Warinaki Koi (Liebe ohne zu räsonieren)[36] von Keiko Kishi
Die Autorin ist eine sehr berühmte, attraktive Schauspielerin und Schriftstellerin. Sie ist vermutlich über achtzig Jahre alt, aber sieht immer noch gut aus. Die Heldin des Romans hat sich im Alter von 70 Jahren in einen um 10 Jahre jüngeren Mann verliebt. Genauer gesagt haben sie sich beide auf einem Flug in einander verliebt. Die beiden pendeln geschäftlich zwischen Japan und Europa, wobei der Mann etwa alle zwei Wochen hin und her fliegt und die Frau eine Zweitwohnung in Paris hat. In Japan wohnt sie allein in einem Haus in japanischem Stil. Sie geht mit ihm mit Freude und Angst vor der Körperlichkeit um. Die Angst betrifft dabei etwas, das sie früher leicht tun konnte, aber bald nicht mehr tun können wird. Die schöne japanische Sprache der Autorin bewirkt, dass man von dieser tabuisierten Liebe genießend lesen kann. Es geht um die unausweichlichen Probleme des Alters. Der Mann hat eine große Familie, seine Frau ist krank. Die Heldin ist seit 30 Jahren alleinstehend. Die Autorin selbst ließ sich von einem berühmten französischen Regisseur scheiden. Ihre Tochter wohnt mit zwei Söhnen in Paris und kann Japanisch sprechen, aber nicht lesen. Daher kann sie auch das schöne Buch nicht lesen, das ihre Mutter auf Japanisch geschrieben hat. Es wird ersichtlich, dass dieses Buch starke autobiographische Züge aufweist. Man könnte das Werk eventuell als ihr schönstes Vermächtnis verstehen.
3. 2. 2 Ran (Der blendende Glanz)[37] von Jakucho Setouchi
Die Autorin hat diese Erzählung im Alter von 91 geschaffen. Ihr Gesamtwerk zählt 20 Bände. Mit 51 Jahren war sie in den buddhistischen Priesterstand eingetreten. Am Anfang des Werkes steht der Selbstmord der 79-jährigen Freundin der Erzählerin. Diese Akane Ohe hatte einen Geliebten nach dem anderen. Sie hat seit längerem eine eindeutige Haltung eingenommen: Wenn sie niemanden mehr lieben kann, will sie sterben.
Nach ihrem Tod erinnert sich die ältere Erzählerin Hitomi, die beruflich große Puppen für Genji Monogatari (Die Geschichte des Prinzen Hikaru Genji) herstellt, an ein halbes Leben mit Akane und an das Leben mit sich selbst. Zum Erinnern bringt ihr ein Familienmitglied Akanes einen Brief von Akane und deren Handy mit der allerletzten Mail an Hitomi. Auffällig ist, dass die Autorin Jakucho Setouchi früher einmal „Genji Monogatari“ ins gegenwärtige Japanisch übertragen hatte. Vermutlich ist Jakucho das (autobiographische) Model für die Figur Hitomi. Eventuell kann man Akane, die unaufhörlich leidenschaftlich lebte, als eine weibliche Version des Prinzen Genji auffassen.
Fazit
Unter den in den zurückliegenden zehn Jahren geschaffenen literarischen Werken japanischer SchriftstellerInnen befinden sich nur wenige herausragende Werke. Am ehesten kann man wohl Mizumuras Honkaku Shosetsu(Ein authentischer Roman) als wirklich faszinierend beschreiben. Eigentlich wollte ich hauptsächlich die Werke Rieko Matsuuras behandeln, konnte aber keine hinreichenden Anhaltspunkt zu weiteren Erörterung finden.
In der Tat habe ich als Übersetzerin einiger Werke von Elfriede Jelinek und Christa Wolf den Eindruck, dass von etlichen SchriftstellerInnen den Lesern weit entgegenkommende, infantile Werke geschrieben werden. Manche AutorInnen verbringen wohl nicht hinreichend Zeit damit, über ein künstlerisch wertvolles Werk nachzudenken. Wie bereits eingangs erwähnt, ist Mizumura ganz eindeutig mit der gegenwärtigen literarischen Szene Japans nicht zufrieden, die den heutigen kommerzialisierten, leichtsinnigen sozialen Verhältnissen entspricht.
Der letzte Roman Minae Mizumuras, Haha no Isan Shinbun Shosetsu(Erbschaft der Mutter Ein Zeitungsroman), hat mich zu ihrem Buch Honkaku Shosetsu (Ein authentischer Roman) geführt. Dieses Werk stellt am ehesten einen Tabubruch dar. In ihren Werken sind sowohl Anklänge an das nostalgische Image der Vorkriegszeit, als auch an den schlagkräftigen, rationellen Lebensstil der Gegenwart zu finden.
23.5.2014
Keiko Nakagome, Studium der Germanistik und der Philosophie. Seit 2012 Professorin für Germanistik an der Daito-Bunka Universität, Tokyo. Buchveröffentlichung: Gender und Literatur. Blicke von Bachmann, Wolf und Jelinek (1996). Übersetzungen aus dem Deutschen u.a. von Kassandra und Vier Vorlesungen von Christa Wolf, Die Klavierspielerin, Lust (mit Rita Briel), Der Tod und das Mädchen I-V (Prinzessinnendramen), Das Lebewohl und zuletzt, gemeinsam mit Kazuko Okamoto und Tzuneo Sunag, Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek. Mitglied des Internationalen Forschungsgremiums des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums.
Anmerkungen
[1] Vgl.: Maruya, Saiichi: Kanpon Nihonngo no tameni. Tokyo: Shinchosha Verlag 2011.
[2] Mizumura, Minae: Nihonngo ga horobiru toki. Eigo no Seiki no nakade (Wenn Japanisch vergeht – in den Jahrhundert von Englisch). Tokyo: Chikuma-Shobo Verlag 2008, S. 262.
[3] Vgl.: Ebd., S. 262- 264.
[4] Vgl.: Ebd., S. 263. gegen Ende des 6. Kapitels, das übersetzt „Englisch und Landessprache in Zeiten des Internets“ lautet, betont sie: „Es kann keine echt globale Literatur existieren.“
[5] Ebd., S. 263.
[6] Ebd., S. 264. In ihrem ersten Werk Zoku-Meian (Fortsetzung - Helle und Dunkelheit). Tokyo: Chikuma Shobo 1990 versuchte Mizumura übrigens, den letzten unvollendeten Roman Meian (1916) von Soseki Natsume zu vervollständigen. Dafür erhielt sie einen Nachwuchspreis des japanischen Ministeriums für Bildung, Kultur, Wissenschaft und Sport.
[7] Vgl.: Ebd., S. 305.
[8] Vgl.: Mizumura, Minae: Shi-Shosetu from left to right (Ein Ich-Roman from left to right). Tokyo: Shinchosha Verlag 1995. Die Ich-Erzählerin Minae bedauert kurz vor der Rückkehr nach Japan, dass sie bisher keine Schrift auf Englisch hatte schreiben wollen, weil sie in Amerika zu sehr von der Vision der Heimat besessen war.
[9] Vgl.: Mizumura, Minae: Honkaku Shosetsu Jyo-ge-kann (Ein authentischer Roman, 2 Bände).Tokyo: Shinchosha Verlag, 2002. Zitierte Seiten sind innerhalb des Textes durch „Mizumura, 2002“ plus Seitenangaben gekennzeichnet.
[10] Vgl.: N.N.: Mizumura Minae. Honkaku Shosetsu. Noch einmal das Wunder von „Sturmhöhe“. In: Nami. Tokyo: Iwanami-Shoten Verlag 2002.
[11] Vgl.: Mizumura, Minae: Nihonngo ga horobiru toki. Eigo no Seiki no naiade, S. 97-100.
[12] Vgl.: Ebd., S. 89.
[13] Vgl.: Ebd, S. 327. Keiko Hori hat diese Tatsache entdeckt. Konjiki Yasha von Koyo Osaki (1867-1903) wurde in der Zeitung Yomiuri in Fortsetzungen (1897-1902) veröffentlicht. Wegen des Todes des Autors blieb der Roman unvollendet. Die Heldin hat einen reichen Mann geheiratet und ließ dafür eine Verlobung mit einem Jungen auflösen. Vgl.: Japanische Übersetzung des Originalbuchs von Clay, Bertha M.: Weaker Than a Woman. Ü: Keiko Hori. Tokyo: Nanundo Phoenix 2002. Der Name „Bertha M. Clay“ soll einige SchriftstellerInnen vertreten, die den Roman gemeinsam geschrieben haben.
[14] Vgl.: N.N.: Mizumura Minae. Honkaku Shosetsu. Noch einmal das Wunder von „Sturmhöhe“.
[15] Vgl.: Jelinek, Elfriede: FaustIn and out Sekundärdrama zu Urfaust. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/ffaustin.htm (Rubriken Theater, 2012) (17. 5. 2014), datiert mit 29.4.2011/8.5.2012.
[16] Vgl.: Ebd.
[17] Vgl.: Nakagome, Keiko: Gretchen in der anderen Welt. FaustIn and out Sekundärdrama zu Urfaust. In: Hikou. Tokyo: Jahrbuch 46/2013, S. 66-89. FN S. 69, S. 89.
[18] Vgl.: Jelinek, Elfriede: FaustIn and out Sekundärdrama zu Urfaust.
[19] Vgl.: Jelinek, Elfriede: KEIN LICHT. http://a-e-m-gmbh.com/wessely/fklicht.htm (Rubriken Theater, 2011) (23.8.2012), datiert mit 21.12.2011.
[20] Vgl.: Jelinek, Elfriede: Epilog? Eine Trauernde. Sie kann machen, was sie will: http://a-e-m-gmbh.com/wessely/ffukushima.htm (Rubriken Theater, 2012) (23.8.2012), datiert mit 12.3.2012.
[21] Vgl.: Girard, René: Ein gefährliches Gleichgewicht Versuch einer Deutung des Komischen. In: Girard, René: Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen. München: Carl Hanser Verlag 2005, S. 180-201.
[22] Vgl.: Was das Zitieren aus der E-Mail-Korrespondenz mit Elfriede Jelinek im Gefolge des 11.3.2011 betrifft, habe ich sie um Erlaubnis gebeten und sie hat in entgegenkommender Weise bewilligt.
[23] Vgl.: Girard, René: Ein gefährliches Gleichgewicht Versuch einer Deutung des Komischen, S. 194.
[24] Brontë, Emily: Wuthering Heights. London: ohne Verlagsangabe 1847, S. 119.
[25] Vgl.: Kohnosu, Yukiko: Arashigaoka. Tokyo: Shinchosha 2003, S. 699.
[26] Vgl.: N.N.: Mizumura Minae. Honkaku Shosetsu. Noch einmal das Wunder von „Sturmhöhe“.
[27] Vgl.: Ebd.
[28] Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass man Japanisch auch von oben nach unten oder von rechts nach links schreiben bzw. lesen kann.
[29] N.N.: Mizumura Minae. Honkaku Shosetsu. Noch einmal das Wunder von „Sturmhöhe“.
[30] Mizumura, Minae: Honkaku Shosetsu Jyo-ge-kann, S. 232.
[31] Brontë, Emily: Wuthering Heights, S. 46.
[32] In der Edo-Zeit (Shogunatsregierung der Tokugawa-Familie, 1603-1867) gab es folgende vier etablierte Stände: Shi-No-Ko-Sho (Samurai, Bauern, Handwerker und Händler). Anders als heute galt damals die Überschreitung des eigenen Standes als Tabu.
[33] Unter den Tabus, die heute noch in Japan stillschweigend existieren, rangiert die Beleidigung des Kaisers und das Kaiserhaus an erster Stelle.
[34] Vgl.: Matzuura, Rieko: Oyayubi P. no Shugyo Jidai (Die Wanderjahre der großen Zehe P.) Tokyo: Kawade-Shobo-Shinsha Verlag 1993.
[35] Vgl.: Matzuura, Rieko: Kika (Seltene Ware). Tokyo: Shinchosha 2012.
[36] Vgl.: Kishi, Keiko: Warinaki Koi (Die Liebe ohne zu räsonieren). Tokyo: Gentosha Verlag 2013.
[37] Vgl.: Setouchi, Jakucho: Ran (Der blendende Glanz).Tokyo: Shinchosha 2013.
ZITIERWEISE
Nakagome, Keiko: „Tabubruch Liebe“ in den Werken zeitgenössischer japanischer Schriftstellerinnen. https://jelinektabu.univie.ac.at/moral/das-begehren-der-frau/keiko-nakagome/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
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