Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen am 14.1.2014 im Literaturhaus Wien, an der auch Seher Çakir und Julya Rabinowich teilnahmen, und wurde dabei von der Autorin selbst gelesen.
Im Anschluss an die Lesung fand ein Gespräch zwischen den drei Autorinnen, moderiert von Pia Janke, statt.
Die Beiträge der beiden anderen Autorinnen:
Seher Çakir (Wien, Österreich):
Tabu
Julya Rabinowich (Wien, Österreich):
Tabu.Brüche
Das Tabu ist das Tabu ist das Tabu
Es gäbe in unserer westlichen Welt keine Tabus mehr, höre ich Kolleginnen und Kollegen sagen. Fast alle von mir Befragten sind dieser Meinung, nach einer kurzen Nachdenkpause spezifizieren einige: Es existierten individuelle Tabus, aber keine gesellschaftlichen mehr.
Im italienischen Magazin l’Espresso erschien im November 2013 der Artikel In Italia il sesso è ancora tabù. In der Schule werde über Sex nicht gesprochen, die Gynäkologen würden schweigen, es gäbe eine vergleichsweise hohe Zahl von Schwangeren unter 19 Jahren. Die Journalistin Elisa Manacorda bezeichnet Italien als ein Land, das ein halbes Jahrhundert zurückgeblieben zu sein scheint.[1]
Sexualität ein Tabu in Italien, dem paese delle veline, dem Land der spärlich gekleideten Fernsehfeen und Showgirls in Hot-Pants und Stilettos?
„Tabus“, so der Büchner-Preisträger Arnold Stadler 2002 in der Zeitschrift Literaturen, „gibt es keine mehr, außer Gott, dem Bankkonto und der Wahlkabine.“ [2]
Tabu – Österreichs großer Sexreport (puls4), „Tabu“: Der Mord, der keiner war (Schirach), Tabu im Land des Kamasutra, Tabu und Schande in traditionellen Roma-Gemeinschaften, Gayclub Tabu, Tabu Homosexualität, Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld[3] –
oder: Rühre am Tabu und raus bist du?
„Tabu or not Tabu“? Das ist tatsächlich die Frage.
Von den drei italienischen Schriftstellerinnen, die ich kontaktiert habe, sagt die eine, sie kenne keine Tabus in ihrer Literatur, höchstens das ihrer Cellulitis, die andere verweist mich auf den Espresso-Artikel und nennt mit Blick auf die italienische Gesellschaft in erster Linie die Sexualität, findet aber auch, dass politische Diskussionen zum Thema Homosexualität, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Adoption von Kindern durch homosexuelle Paare, das Ende des Lebens, die Zustände in den Gefängnissen, die Legalisierung von Drogen, die Gewalt an Frauen und ihr Schweigen aus Scham in Italien noch immer tabuisiert werden, die dritte sieht in der Darstellung und Äußerung der ambivalenten und schwierigen Aspekte der Mutterschaft ein Tabu, nennt ferner den Kindsmord, die Sexualität im Alter sowie die Krankheit und den Tod von Kindern.
Ein Tabu lässt sich nicht eindeutig festlegen, es ist zeit- und kulturabhängig, daher ist es vermutlich auch fragwürdig, ob zum Beispiel Arnold Stadler seine Aussage, die er vor zwölf Jahren gemacht hat, so wiederholen würde.
Die Grenzlinien, die mittels Tabus gezogen werden, verschieben sich, sie werden enger oder weiter gesetzt, sind abhängig von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen, auch von Geschlecht und sozialem Rang. Sexualzensur stellt sich für Frauen anders dar als für Männer. Die moralphilosophischen Grundfragen unserer Kultur wird jeder – bedingt durch unterschiedliche Sozialisationen – anders beantworten. Denkhemmungen und Frageverbote stellen sich für denjenigen, der es gewohnt ist, selbstbewusst aufzutreten, anders dar als für diejenige, die sich ihren Platz in der Familie oder in der Gesellschaft erst mühsam erkämpfen muss oder erst erkämpft hat.
Künstlerische Tabubrüche und die ihnen nachfolgenden öffentlichen Diskussionen, ihre Wirkung auf die Gesellschaft, sind mit Position und Herkunft des Künstlers in Verbindung zu bringen. Die Frage nach der Legitimität der Komik in Holocaust-Werken beispielsweise stellt sich für die Opfer nicht, wohl aber für jene, deren Geschichte mit jener der Täter verbunden ist. Dass Roberto Benigni, Schauspieler, Dante-Rezitator, Kabarettist und nicht zuletzt Regisseur von La vita è bella von einem PdL-Politiker als „comunista, miliardario ed ebreo“[4] beschimpft wurde, legt die These nahe, dass auch der antisemitische Gemeindepolitiker Luigi Tuccio einen komischen Holocaust-Film nur einem Juden zutraut. Egal ob Benigni nun jüdischen Glaubens ist oder nicht, sein Lachen ist stets ein Lachen, das mit Einfühlung und nicht mit Gefühlstaubheit einhergeht, es macht nicht unempfindlich für die Grausamkeiten und Schrecken des Nationalsozialismus – es ist, könnte man sagen, ein politisch korrektes Lachen.
Gott ist für mich kein Tabu, wohl aber habe ich Respekt vor religiösen Gefühlen anderer Menschen, sofern diese nicht durch Fanatismus oder aufgrund von Missionierungsbedürfnissen meine persönliche Freiheit beschränken. Auf meinem Bankkonto lagen am 1. Jänner 2014 exakt 1.571,31 Euro, und bei den letzten Südtiroler Landtagswahlen habe ich die Grünen gewählt, die eine Fusion mit der Sel (Sinistra ecologia e libertà) eingegangen waren. Stadlers Feststellung trifft auf mich nicht zu.
Ich bin in einem Land groß geworden, in dem die Aufarbeitung der historischen Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus lange tabuisiert waren, weil man befürchtete, dass die Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges die angestrebte Einheit der deutschsprachigen Minderheit, den Schulterschluss gegen die Italiener, gefährde. Alles Kritische galt als Nestbeschmutzung und Verrat an der Heimat. Vor allem über die Option 1939 (das Abkommen zwischen Hitler und Mussolini zur Umsiedlung der Südtiroler) wurde lange nicht gesprochen. Die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler mussten sich damals entscheiden, ob sie ihre Heimat verlassen und ins Deutsche Reich abwandern oder in Südtirol bleiben würden, wo sie der Italienisierungspolitik der Faschisten ausgesetzt waren.
Jede Debatte, welche die deutschsprachige Minderheit durch Fehler- und Schuldeingeständnisse hätte schwächen können, wurde vermieden. Auch die Aufarbeitung der Fluchthelferrolle Südtirols nach 1945 – man hatte maßgeblich an der Ausschleusung von NS-Kriegsverbrechern mitgewirkt – wurde über Jahrzehnte tabuisiert. Ich erfuhr beispielsweise erst in den 1990er Jahren aus historischen Publikationen von der Schlepperrolle zahlreicher Südtiroler, so auch des Kunstmäzens und Literaturliebhabers Karl Nicolussi-Leck, der SS-Offizier gewesen war und enge Kontakte zu seinen geflohenen Kriegskameraden nach Argentinien pflegte.
Offiziell herrschte das Bild des Opferlandes Südtirol, eines Landes, das unter dem italienischen Faschismus und unter dem deutschen Nationalsozialismus gelitten hatte. Wer diese ideologische Haltung hinterfragt hatte, wurde geächtet. Die Aufarbeitung der Mittäterschaft innerhalb des NS-Systems erfolgte sehr spät, in manchen Bereichen ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende. Zwar ist inzwischen bekannt, dass antisemitische und antikommunistische Geistliche, SS-Kameradenkreise und das Rote Kreuz nationalsozialistische Massenmörder wie Josef Mengele und Adolf Eichmann in Südtirol versteckt und mit Fluchtpapieren nach Übersee versehen hatten, doch eine Entschuldigung von offizieller Seite ist bis heute ausgeblieben. Die historischen und literarischen Aufarbeitungen haben keinerlei öffentliche Diskussionen losgetreten. Mein Roman Stillbach oder Die Sehnsucht, der unter anderem auch diesen Aspekt der Mitschuld zur Sprache bringt, wurde verdächtig heftig gelobt. Die von mir befürchteten Anfeindungen kamen aus Neonazikreisen Ostdeutschlands.
Hingegen ließ 2008 das Kunstwerk Zuerst die Füße, ein selbstironisches Portrait Martin Kippenbergers, das den deutschen Künstler nach einem Drogenentzug als gekreuzigten Frosch mit einem Bierkrug in der Hand darstellen soll, die Wogen hochgehen. Der damalige Südtiroler Regionalratspräsident Franz Pahl trat aufgrund verletzter religiöser Gefühle sogar in den Hungerstreik.
Offenbar bedarf es einer provokanten Visualisierung oder plakativer Äußerungen, damit Tabus kenntlich werden. Komplexe, multiperspektivische, Widersprüche inkludierende Romane bedürfen einer profunden Auseinandersetzung und offenbaren die Grenzlinien, welche eine Gesellschaft beherrschen und reglementieren, erst auf den zweiten oder dritten Blick. Die Neonazi-Post war vermutlich eine Reaktion auf die Medienresonanz des Romans, in dessen Headlines u.a. auf den ehemaligen Kriegsverbrecher Erich Priebke Bezug genommen worden war.
„Ich schreibe immer mit dem Nebengedanken, dass die, die mir viel bedeuten, mitlesen, auch wenn sie schon tot sind, besonders wenn sie tot sind. Ich möchte ihnen mit Wörtern beikommen.“[5] Einige Zeilen weiter bezeichnet die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller das Schreiben als Gratwanderung „zwischen dem Preisgeben und Geheimhalten, […] im Preisgeben biegt sich das Wirkliche ins Erfundene, und im Erfundenen schimmert das Wirkliche durch, gerade weil es nicht formuliert ist.“[6]
Das einzige Tabu, das ich beim Schreiben kenne, betrifft das Leben mir nahestehender Menschen. Es war mir immer unmöglich, Biographien abzuschreiben, sie abzubilden, die Wirklichkeit ungefiltert in den Text einfließen zu lassen. Ich sehe es als meine moralische Verpflichtung, bei real existierenden Personen, die nicht von historischer Relevanz sind, Klarnamen zu vermeiden, Autobiographisches zu fiktionalisieren, Vorgefundenes mit Erfundenem zu verfremden. Abrechnungsromane, in denen das Leben eines Menschen zur Schau gestellt wird, die aus Lust an der Rache Name und Adresse preisgeben, die Person wiedererkennbar entblößen, sind mir zuwider, da sie den Voyeurismus der Leser und Leserinnen bedienen und aus der öffentlichen Desavouierung billigen Aufmerksamkeitsprofit schlagen. Es lässt sich allein durch die Änderung des Namens die Spur zur realen Person verwischen und deren Lebens- und Freiheitsbereich schützen. Subversion ist auch in der Fiktion möglich.
16.1.2014
Sabine Gruber, geboren in Meran, aufgewachsen in Lana. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte in Innsbruck und Wien. Neben Gedichten, Erzählungen, Theaterstücken und Hörspielen veröffentlicht sie seit Mitte der 1990er Jahre auch viel beachtete Romane, u.a. Die Zumutung und Über Nacht. Zuletzt erschienen: Stillbach oder die Sehnsucht (2011). Sabine Gruber wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Anton Wildgans-Preis.
Anmerkungen
[1] Manacorda, Elisa: In Italia il sesso è ancora tabù.
http://espresso.repubblica.it/visioni/scienze/2013/11/19/news/niente-sesso-siamo-italiani (7.1.2013).
[2] Stadler, Arnold: Tabus gibt es keine mehr, außer Gott. In: Literaturen 11/2002, S. 24-26, S. 27.
[3] Nach dem Begriff „Tabu“ googelnd, traf ich auf diese Überschriften im Internet.
[4] Luigi Tuccio, Gemeindepolitiker aus Reggio Calabria, Politiker der Berlusconi-Partei Popolo della Libertà, schrieb über Roberto Benigni nach seinem Auftritt in der Show von Fiorello am 5.12.2011 auf Facebook: „Kommunist, Milliardär und Jude und ohne jeden Inhalt!“ Vgl. dazu: Pasqua, Marco: L’assessore reggino su Facebook „Benigni, comunista ebreo miliardario“.http://www.repubblica.it/politica/2011/12/06/news/assessore_benigni_ebreo_comunista-26197099/ (6.12.2011).
[5] Müller, Herta: Der König verneigt sich und tötet. München: Hanser 2003, S. 86-87.
[6] Ebd., S. 87.
ZITIERWEISE
Gruber, Sabine: Tabu or not tabu. https://jelinektabu.univie.ac.at/tabu/tabu-geschlecht-kunst/sabine-gruber/ (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).
Elfriede Jelinek
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