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Brigitte Marschall & Gabriele C. Pfeiffer

PERVERTIERUNGEN. KÖRPER / ERPROBUNGEN

Brigitte Marschall: Der kranke Körper Schlingensief, der sein Sterben und seinen Umgang mit der Krankheit öffentlich gelebt, in seinen Arbeiten ausgestellt hat, zeigt das Röntgenbild wie ein Schwarzbild, ein überbelichtetes Negativbild, das nach den Leerstellen des Menschseins, nach dem existentiellen Sein fragt, und eben nicht nach der schulmedizinisch brauchbaren Funktionalität des Körpers. Die Aspekte des kranken Körpers und die Auseinandersetzung mit dem Tod folgen konsequent dem Krankheitsverlauf, klingen aber bereits als kranker Gesellschaftskörper, der aufgeschnitten wird, vor seiner Krebs-Erkrankung an. Krankheit, Tod und vor allem auch die Selbsttötung sind Grenzerfahrungen, die die Gesellschaft seit der frühen Neuzeit verstärkt mit Tabus belegt hat. Die vom Sozialsystem ausgeübten Kontrollmechanismen setzten dem Gebrauch des Körpers als Ausdrucksmedium permanent Grenzen.
Gabriele C. Pfeiffer: Es „existieren Tabus in den modernen westlichen Gesellschaften durchaus“[1]. Vielleicht haftet dieser Feststellung eine erste Reaktion rund um das Tabu an: jene des Verdachts, es gäbe heute keines mehr, um dann aber doch nach einer kurzen Nachdenkpause hinzuzufügen, außer vielleicht die Tabuthemen Tod und Sexualität – insbesondere Inzest. Über die Herleitung des (tongaischen) Begriffs „tapu“ durch Kapitän James Cook in seinen Südseereiseberichten aus den Jahren 1776-80 herrscht Einigkeit,[2] auch darüber, dass es sich bei den frühen Tabuisierungen um Tod und Sexualität handelt – also genau um jene beiden Aspekte, die heute noch als solche zu gelten scheinen. In diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass es schlecht um die Kunst bestellt ist, will sie Tabus verhandeln oder sich an diesen abarbeiten. So meint etwa auch Hans-Thies Lehmann in seinen Notizen über das Theater und Tabu, dass es „keine Tabus mehr [gibt], so daß die Kunst kaum mehr die Chance hat, welche zu brechen“[3]. Zu konstatieren ist aber mindestens eine Ersatzhandlung, denn schließlich haben sich mittlerweile „Quasi-Tabus“ herausgebildet. Diesen mögen zwar bei Weitem nicht die Vehemenz, Funktionsbreite oder Wirkungsdimension eines Tabus innewohnen, aber „wirkunsvolle Tabu-Effekte[4] erzeugen diese ebenso. Unterschieden muss das „Quasi-Tabu“ vom genuinen Tabu dennoch bleiben, da diesem die Kraft inhärent ist, Kultur zu erzeugen und zu erhalten, und zwar einzig dadurch, „indem es als Verwerfungsregel unverhandelbare kulturelle Setzungen produziert.“[5] Das regulierende Moment liegt vorwiegend im Verbot, eine Grenze zu überschreiten. Wird dieses gebrochen, folgen Sanktionen, müssen Sanktionen folgen. Torsten Junge weist bei seinen Überlegungen zu Todestabuisierung aber auch darauf hin, dass dabei nicht unbedingt nur ein negativer Effekt hervorgerufen werden muss, manchmal ersteht ein heroischer Akt:

Die regulierende Funktion liegt im Verbot, die Grenze zu überschreiten: Der Verstoß wird sanktioniert. Jedoch lässt sich die Überschreitung nicht nur im Negativen markieren: Die Übertretung eines Tabus kann gleichfalls eine Befreiung, einen heroischen Akt darstellen. Am Auffälligsten ist dies wohl bei dem Begriff des selbstlosen Opfers und dem Tötungstabu, welches nicht nur das Töten des Anderen, sondern auch die Selbsttötung umfasst.[6]

Als heroische Tabu-Brechungen, weil den Prozessen innerhalb einer Gesellschaft teils zeitlich vorgelagert und gleichsam in ihr waltend, um diese zu beschleunigen, mögen sie vorwiegend in den Künsten, insbesondere im Theaterbereich in Erscheinung treten, zumal „Tabuverletzungen auf der Bühne wesentlich schärfere Reaktionen hervorrufen als in anderen Künsten.“[7]
Bis in die Gegenwart wirkt die Beschäftigung mit Krankheit, mit dem sterbenden Körper in ästhetischen Kontexten als Gratwanderungen ethischer und öffentlicher Akzeptanz. Im Gegensatz zur Thematisierung von Körperausscheidungen, die im Laufe der europäischen Geschichte eine wechselvolle Entwicklung genommen hat und am Hofe Ludwigs XIV. geradezu eine höfische Mode und zum die Zeit ausfüllenden Amüsement geworden war.
Aristophanes gab in Die Frösche
die Figur Dionysos, der bei seinem Abstieg in die Unterwelt vor Angst dastehen solle wie unter Kontrollverlust seiner Körperausscheidungen, der Lächerlichkeit preis. Das Abstoßende sollte nicht ausgesprochen werden, so war die Schauspielkunst gefordert, diesen Körperzustand ad
äquat darzustellen. Dionysos ist seiner mutigen Heldenrolle (in der Verkleidung Herakles) nicht gewachsen, seine Ängste holen ihn ein und zeigen ihn als Schwächling, der seine inneren Ausscheidungen nicht regulieren kann. Ein Motiv, das später auch Nestroy als dramaturgischen Trick seiner komischen Figuren, die als Angsthasen in wichtigen Situationen die Hosen voll haben, angewandt hat. Schadenfreude und gekonnt eingesetzte Schauspielkunst trugen zur Toleranz und zum „common sense“ dieser Situationskomik bei. Der Ort war jedoch der Schutzraum des Theaters, der Bühnenbereich.
Am Hof Ludwigs XIV. gehörten hingegen Beobachtungen und die an sie geknüpften Erörterungen der physiologischen Funktionen des Körpers zum Tischgespräch. Auch das Aderlassen und Purgieren wurde eingebunden in das höfische Spiel und die höfische Beschäftigung. Die Herren und Damen vom Hof ließen sich Schröpfschnitte in Form von Herzen und Monogrammen machen, alles wurde zur Mode, und der König gewährte auf seinem Leibstuhl sitzend Audienzen. Wurden die Verdauungsstörungen und erfolgreichen Stuhlgänge in Briefen und Memoiren mitgeteilt, wurden sie für Kant, der zeitlebens unter Störungen seiner Verdauungsorgane litt, zu gastro-philosophischen Abhandlungen.
Für die nachfolgenden Generationen undenkbare Praxen; heute sind Urin- und Stuhlgänge nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit, möglichst geräuschlos und an verschlossenen, abzusperrenden Orten/Räumen zu verrichten.

Wenn nun im Speziellen Körperlichkeit und die damit einhergehenden Veränderungen (wie Sexualität, Krankheit, Stoffwechsel, Auflösung, Alter, Tod) Facetten von Tabus sind, so darf das Thematisieren, das Darstellen und Verhandeln dieser auf der Bühne als Tabu: Bruch und spätestens seit den 1990er Jahren als Markenzeichen für das von Lehmann als postdramatisches Theater[8] beschriebene Theater in Nordamerika und Europa gelten. Elfriede Jelineks (Theater)texte sind hierfür herausragende Beispiele, die nach Umsetzungen schreien, selbst wenn und gerade weil die Autorin verlautbart: „Ich will kein Theater“[9]. Neben Einar Schleef ist wohl Christoph Schlingensief einer der bedeutendsten Theaterleute, mit denen Jelinek arbeitete und mit dem sie auch eine Freundschaft verband, die es offensichtlich erlaubte, vielleicht sogar förderte, intime Körperlichkeit in den öffentlichen Raum zu tragen.

Elfriede Jelinek: "Tod-krank.Doc". Theater Bremen, Inszenierung: Mirko Borscht, 2013. v.l.n.r.: Susanne Meyer, Gabriele Müller-Lukasz, Michael Janssen. Foto: Jörg Landsberg

Anforderungen an Hygiene und betroffene Reaktionen im Zusammenhang mit Schmutz prägen die Separierungstendenzen und profanen Verunreinigungen des Körpers, die Vorstellung und Etablierung von Tabus. Ambivalenzen und Gegensatzpaare kennzeichnen den historischen Verlauf von Ver- und Geboten, strukturieren Ordnungssysteme gesellschaftlicher Verhältnisse, die ihrerseits Tabus generieren. Das Missachten und Stürzen von Stabilität und Ordnung bedingen auch die Pervertierung von Tabuisiertem. Krisen- und Umbruchszeiten betreffen immer auch das Wertesystem, das soziale Gefüge einer Gesellschaft. Kriege und Seuchen bedrohen sowohl die physische Existenz, den Staatskörper und seine Bevölkerung, als auch stets die psychische Stabilität einer Gesellschaft. In diesen physischen und psychischen Ausnahmezuständen werden herrschende Moralgesetze und Wertevorstellungen pervertiert. Bedrohung und Todesangst rufen soziale Spannungen hervor und greifen in das soziale Verhalten ein.
Panikreaktionen in Krisenzeiten zeigen universelle Verhaltensformen, die ein Kollektiv betreffen und bestimmte Mechanismen auslösen. Zunächst wird die Frage nach der Ursache, nach dem Grund für die Katastrophe gestellt. Bei der Suche nach dem Sinn für das Unheil, für den Ausbruch von Seuchen und Massensterben wenden sich die Menschen an Vermittler, die sich durch bestimmte Fähigkeiten auszeichnen. Es sind dies Personen wie Schamanen, Seher, Priester, Traumdeuter. Sie stellen die Diagnose, indem sie das Geschehen interpretieren und die Frage der Schuld beantworten. Die vorgenommene Schuldzuweisung bestimmt wiederum die rituelle Handlung, die erlittenes Unheil sühnen und künftiges abwenden soll. Durch bestimmte Rituale werden nicht nur die Toten, sondern auch die Lebenden in eine neue Phase ihrer Existenz eingeführt. Diese „rites de passage“ und ihr Ensemble an Strategien helfen, das mentale und soziale Gleichgewicht wiederherzustellen. Gerade in Umbruchs- und Krisenzeiten ist der Mensch besonders empfänglich für Geschehnisse, die in einer bedrohlich gewordenen Welt ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Stabilität vermitteln und neue Perspektiven aufzeigen sollen. Im Kontext einer emotional aufgeladenen Krisenzeit werden Erfahrungstatsachen mit realen Effekten kombiniert.

So verarbeitet Jelinek in dem aus vier Teilen bestehenden Stück Tod-krank.Doc (für Christoph Schlingensief) Berichte, Erzählungen über die Krankheit und den Krankheitsverlauf, die sie von ihm erhalten hatte; eine schöne Verquickung von Autor/in und Regie und der schon im Titel angesprochenen zwei Tabu-Aspekte Tod und Krankheit. Diese beiden klar und deutlich genannten Bereiche heutiger Tabus bestehen aus zwei durchdringenden, in die Körperlichkeit eingreifende Prozesse. „Und jetzt ist das alles also kaputt, was ich mir so mühsam ausgedacht habe“, beginnt sie/er ihren/seinen Text. „Der Blutkuchen ist gebacken, die Brust ist leer, aber irgendwie schief, weil da was fehlt, weil ihrem Besitzer was fehlt, die schaffende Hand will etwas gefragt werden, aber sie gibt nichts mehr her. Sie hat einen Vertrag mit dem Körper geschlossen, doch der Vertrag wackelt bedrohlich, ein Vertrag kann natürlich kein Sockel sein für das arme Körperlein.“[10] Und damit spricht Jelinek mit ihrer berüchtigten, klaren, gnadenlosen und gewaltigen Sprache aus, was niemand hören will, nach Tabulogik nicht hören darf: Krankheit, Verfall, Tod. Sie selbst hat „ein extrem gestörtes Verhältnis zum Tod. Einerseits ist es ein befreiender, andererseits ein grauenvoller Gedanke, die Instanz, die mich [Jelinek] sozusagen am Ticken hält, diesen Motor, der mir Stromstöße gibt, nicht mehr zu haben.“[11] Dies „beichtet“ sie nicht im Zusammenhang mit Schlingensiefs bedrohlicher Wahrheit eines langsamen Sterbeprozesses, als vielmehr bei ihren Überlegungen zu einem der mächtigsten Tabus, die sie sich vorstellen kann, dem Muttermord.[12] Und mit ihren vier Teilstücken spricht sie allesamt in der heutigen Gesellschaft tabuisierte Bereiche an: im ersten, In der Krankheit, spricht sie Christoph Schlingensiefs Krankheit selbst, die fehlende Lunge, das postoperative Wuchern, den Blutkuchen, die Eucharistie an; im zweiten, Im Bus, steht ein Busunglück Pate, deren Toten in polyphoner Weise Stimmen abgeben, „vom Blutkuchen führt hier die rhizomatische Metaphorik zur Blutschuld der Technik-Titanen“[13], schreibt Bärbel Lücke; der dritte Teil, Im Keller, lässt das Inzesttabu anhand des Amstettener-Falls auferstehen, um in den menschlichen (Ab-)Grund oder sogar in den philosophischen, ins Nichts zu sehen (Heidegger); und im vierten schließlich gibt es die Landung, In der Hölle, mit einem kunst- und sprachmächtigen Griff zu Dante-Dürer-Bosch und Kafka-Assoziationen, wenn ein Todkranker die Grenzerfahrung von Leben und Tod bespricht.

Elfriede Jelinek: "Tod-krank.Doc". Theater Bremen, Inszenierung: Mirko Borscht, 2013. v.l.n.r.: Karin Enzler, Gabriele Müller-Lukasz, Susanne Meyer. Foto: Jörg Landsberg.

An diesen existentiellen Bruchstellen werden Tabus markiert, indem gerade ihr Nicht-Einhalten, das Widersetzen des gesellschaftlich bedingten Wertekanons und der moralischen und ethischen Grundregeln gelebt wird. Die Verkehrung der Verhaltensweisen und ihre transformierte Bedeutungscodierung als Steuermechanismen stürzen Ordnungssysteme und etablieren an den Wendepunkten selbsternannte oder von der Gesellschaft eingesetzte Vermittler, die an der Schwelle zwischen Leben und Tod agieren. Sündenböcke und Märtyrer fächern die Tabuthemen einer Gesellschaft auf, zeigen die Bedrohung herrschender Machtsysteme. Das von der Gesellschaft Ausgestoßene trägt die Ambivalenz der zerstörenden und lebensspendenden Wirkung in sich. In den Legitimationsansprüchen für die Beschäftigung mit dem toten Körper stehen kulturelle Muster und die Strukturen sozialer Verhältnisse zur Disposition. Die Konstruktion von Situationen führt zur Sinnstiftung, zu Dispositiven der Wahrnehmung und Narration, die in ihrer Rolle als Katalysatoren am Entstehen von kollektiven Vorstellungswelten beteiligt sind.

Elfriede Jelinek: "Tod-krank.Doc". Theater Bremen, Inszenierung: Mirko Borscht, 2013. Gabriele Müller-Lukasz, Lisa Guth sowie Karin Enzler u. Michael Janssen (unten). Foto: Jörg Landsberg

Der gesamte Text, den Jelinek für Schlingensiefs Mea Culpa verfasst hatte, der bei dieser Ready-made-Oper aber dann nur ein blutkuchenähnliches Relikt geblieben war, kam nun in Bremen unter der Regie von Mirko Borscht 2013 zur Uraufführung, in der „Gestalt eines Stationendramas mit klar definiertem Ausgangspunkt […]. Alles endet ,In der Hölle´“[14] Die Kritiken waren eher zurückhaltend, Jelineks Zweifel hinsichtlich einer Freigabe des Textes wohl begründet – die Intimität des Textes bleibt nicht aufrecht, wenn Schlingensief selbst als Stimme aus dem Totenreich „die Geschichte seiner Leiden klagt“, er „jammert und wimmert und flennt vom Band, wird langsam runtergeregelt, krächzt immer leiser und verschwindet schließlich ganz, wie ein Theatergeist“[15]; wenn mit Kunstblut gespritzt wird und Bühnennebel verraucht.[16] Hier kommt also nicht nur der Tod sondern vielleicht vor allem die Angst vor dem Tod auf die Bühne, und zwar die reale Todesangst eines sterbenskranken Künstlers, Christoph Schlingensief. Konsequent, wie er sein Kunstschaffen mit seinem Leben immer verbunden hatte, geschieht dies in seinen letzten Jahren auch mit seinem Tod und seiner Angst davor. Konsequent, wie Elfriede Jelinek ihre Texte schafft, bleibt dies nicht ausgespart. Es treffen sich auf deren gemeinsamer Bühne das Tabu namens Tod und das Tabus bestimmende Regulativ: die Angst, die Todesangst. Die erste Frage in der Hölle: „Bin ich hier richtig, bin ich für hier richtig hergerichtet, bin ich für meine Hinrichtung richtig hergerichtet?“[17] Aber wer/was wird hier gerichtet, geopfert, ermordet?
Präparate aus menschlicher Hirnschale galten bis in die Frühe Neuzeit als besonders wirksame Medikamente. Leichen wurden fast vollständig zu Arzneien verarbeitet. Eine zentrale Funktion in der Leichenmedizin kam dem Henker zu, verfügte er doch exklusiv über den pharmazeutischen Rohstoff: die Körper der Hingerichteten. Die Aufgaben des Henkers umfassten neben den Hinrichtungen und Folterungen die Entsorgung von Tierkadavern, die Reinigung der Kloaken und die Aufsicht über die Prostitution in der Stadt. Wie alle Personen, die mit Tod und Abfall in Berührung kamen, galt der Henker als unrein, als tabuisierte, ausgestoßene Person, die außerhalb der Stadt wohnen musste. In der Stadt, im Wirtshaus, waren ihm eigene Plätze zugewiesen. Der räumliche Abstand brachte die soziale Distanz zum Ausdruck. Durch das genaue Studium des Körpers und einer Vorbereitungszeit musste der Henker im Stande sein, den Verurteilten „auf Anhieb“ zu töten. Wundversorgung nach der Folter, genaue anatomische Kenntnisse und chirurgische Fertigkeiten durch das Zerlegen der Leichen rückten den tabuisierten Berufsstand in den Bereich eines Heilkundigen. Ebenso verfügte er über Kenntnisse von Arzneien und Rauschdrogen, wie etwa Alraune, Bilsenkraut und Tollkirsche. War das Gewerbe des Henkers auch unrein und wurde die Begegnung mit ihm bei Tageslicht gemieden, so wurde er im Schutz der Dunkelheit aufgesucht, um Rat einzuholen, Arzneien zu kaufen. Galt die Befleckung durch Berührung nicht nur der Person des Henkers, sondern auch den Verurteilten, verwandelte sich das kollektiv getroffene Arrangement in ihr Gegenteil und pervertierte die Reinheitsregel: die Tätigkeiten des Henkers und die Leiche des Hingerichteten wurden zu einer heilenden, lebensspendenden Instanz. Träger und Quelle der geheimnisvollen Eigenschaften waren über das Gewöhnte erhaben, andererseits auch gefährlich, unrein und unheimlich: sämtliche Eigenschaften, die der Wirtsinn Tabu umfasst. Die spezifische Indikationsstellung und die Art der Zubereitung zeigen, wie Geheimmedizin in den kranken Körper eindringt und durch emotionale Sensoren die Wahrnehmung beeinflusst, Effekte konstruiert zwischen Zweckentfremdung und Wirklichkeitsaneignung. Knochen der Hingerichteten wurden zu Pulver gemahlen, mit Öl gemischt und als Mittel gegen die Gicht verkauft. Eine besondere Heilwirkung hatte die Hand eines Toten. Bösartige Geschwüre und Warzen wurden damit bestrichen, gegerbte Menschenhaut wurde als Wundpflaster bei schweren Geburten eingesetzt. Dem Trinken des noch frischen Bluts der Delinquenten wurden universelle Kräfte gegen dämonische Krankheiten wie etwa Epilepsie zugeschrieben. Diese Verwertung der Verurteilten und ihre Reinigung durch ihre heilbringenden Leichenteile sind auch als Wiedergutmachung und Aufnahme in den Gesellschaftskörper zu verstehen. Die Gewaltanwendung gegen die Ausgestoßenen konnte dazu beitragen, die Gemeinschaft zu stabilisieren und kommendes Unheil abzuwenden.
Schlingensief schreibt in seinem Krebs-Tagebuch nach seiner ersten Operation: „Manchmal male ich mir aus, dass wir uns hier in einer Endlosschleife befinden, dass man als Kind wieder auf die Welt kommt, wenn man stirbt.“[18] Dies klingt weniger nach einem Neuanfang, als es vielmehr der Logik einer Unendlichkeit mit einem weiteren Leben, einem zweiten Leben angehört.
Verhaltensstile sind in einen soziokulturellen Kontext und in ein System von Symbolen eingebettet. Marcel Mauss hat in Les Techniques du corps (1936) die These aufgestellt, dass es ein „natürliches“ Verhalten nicht gibt, sämtliche körperliche Aktivitäten, vor allem auch die sexuellen, immer von sozialen Lernvorgängen und kulturell geformten körperlichen Verhaltenstechniken geprägt sind. Ein erweiterter Bereich von körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten stellt die Transformation des biologischen Geschlechts dar, die in den europäischen Kulturen als Tabubruch gilt. Der Performer Jürgen Klauke thematisiert durch das Gleiten über Geschlechtergrenzen hinweg in seinen Aktionen die biologischen Grenzen des Geschlechts. Jürgen Klauke präsentiert sich in Self performance und Transformer (1972-73) mit aus Stoff genähten Relikten, die maskulinen und femininen Geschlechtsteilen ähneln oder diesen nachgebildet sind. Klaukes Requisiten bestehen aus (vor)codierten Elementen. Körperzustände werden in Erfahrungshorizonte übersetzt. „Durch imaginäres Gleiten über Geschlechtergrenzen hinweg erscheinen die sozial etablierten Codes, die physisches Geschlecht und mental steuerbares Verhalten zu geschlechtsspezifischen Rollenverhalten verbinden, fragwürdig und transformierbar.“[19]
Ein Wunsch, dem sich auch transgender Personen stellen – spielerisch, ernsthaft, ausgelassen, todernst. Sexualität auf der Bühne präsentiert sich heute als das (vor)letzte Tabu. Das alte Lied vom Mädchen und dem Bub will gesungen werden – oder das neue von Aphex twin mit einer Kurzperformance.
Gin Müller[20] performt bei der Vernissage einer Fotoausstellung anlässlich der Eröffnung der Eventreihe „Das künstliche Geschlecht“ am 25.5.2013 zu Aphex twins Girl/Boy Song im Brick-5.[21] Die Performance dauert genau so lang wie der Song, vier Minuten und zweiundfünfzig Sekunden, und setzt Assoziationen eines gesamten Lebens frei.

Gin Müller: Performance bei der Eröffnung "Das künstliche Geschlecht"; © prh 2013

Mit wenigen Mitteln – einer_m Performer_in, einem Laptop, einem Beamer – setzt sich ein Wandel in Gang – in schwarz/weiß Tönen, poetischen Klängen, elektrischer wie elektrifizierender Dynamik. „Performer im Beamerprojektionslicht, vor Wand“[22] lautet die erste Notiz und der erste Anhaltspunkt. Die Performance findet im dafür verdunkelten Ausstellungsraum statt. So steht der Performer also vor einer Wand, auf der bereits ein Foto der Ausstellung hängt – dieses wird undeutlich immer im Hintergrund da sein (ähnlich der immerwährenden Erinnerung und Erzählung Schlingensiefs vom doppelt belichteten Film, bei dem es zu Projektionen auf seinem und seiner Mutter Bauch kam)[23]. Der Performer ist in einen Anzug gekleidet und trägt eine Sonnenbrille. Das Intro setzt mit dem Girl/Boy Song am Laptop ein und wird nach 14 Sekunden gefolgt vom Geigen- und anschließenden Drumeinsatz, dann von den ersten ins Headset gesprochenen Worte: „when I was a boy (Rücken zum Publikum) | I played the violin | When I was a girl (Zum Publikum) | I played the drums“.In den nächsten Minuten wird sich der Performer entkleiden, werden Textprojektionen auf dem weißen Unterhemd zu lesen, weitere gesprochene Worte zu hören sein – von Jeanette Winterson wie von Marilyn Monroe – oder Wortspielereien mit der muslimischen Antwort auf das signifikante Symbol der Entblößung der ukrainischen Femen. Die Projektionen gehen über in Textteile von Hafis, welche off-voice erklingen und auf Persisch – sicherlich eine Ovation an die Ausstellung (Das künstliche Geschlecht, Foto-Ausstellung von Asoo Khanmohammadi) – im Hintergrund erscheinen. Als (zeitlicher) Höhepunkt wird eine Klimax gesprochen, die durch die Bestätigung dessen, was das performende Ich tut, tun soll, endet. War es zuerst ein Ich, das sich als Bub verhält bzw. so, wie ein Bub es tun soll, ist es dann eines, das sich als Mädchen verhält bzw. so, wie das ein Mädchen tun soll, und schließlich das Ich, das es sein soll: „And then i act for myself and i act like a trans and I like to act like I could“.In einer dichten Raum- und Zeitanordnung und mit hoher Geschwindigkeit, die durch Poesie und schwarz-weiß Bildprojektionen entschleunigt wird, sehen lassen, was nicht zu sehen ist – das ist das Geheimnis. Für eine minimale Zeit eine zeitlose Zeit entstehen lassen, in der auch Raum verschwindet, in dem Geschlechter transformiert werden, Tabu:Bruch kein Bruch des Tabus mehr sein muss und Slam-Poetry Wohlklang erzeugt, „[…] when I was a boy (Rücken zum Publikum) | I played the violin | When I was a girl (Zum Publikum) | I played the drums | when I was a trans i played the symphony on the balcony“.

27.2.2014

Brigitte Marschall Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik; (Medizin). Promotion mit einer Arbeit über Jacob Levy Moreno und „Psychodrama“. Seit 1985 zunächst als Vertragsbedienstete der Fachbibliothek, ab 1988 als Univ. -Ass. am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien tätig. 1998 Habilitation: Die Droge und ihr Double: Zur Theatralität des Rausches. Derzeitiges Forschungsfeld: Ritualität und magische Katastrophenwahrnehmung in sozialen Krisenzeiten, theatrale Schwellenphänomene, Sub- und Gegenkulturen, Theatertheorien, Psychodrama, Arbeit an einer Monographie zum Theater J.L. Morenos (www.vbkoe.org) und zu Pest und Theatralität, Aufbau und Betreuung der Datenbank THEADOK.

Gabriele C. Pfeiffer Studium der Theaterwissenschaft und Philosophie in Wien und Pisa, wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Projektleiterin bei universitären und außeruniversitären Forschungsinstituten, seit 2001 Lehrtätigkeit an den Universitäten Catania/Ragusa, Leipzig, Mainz und Wien. Seit 2009 tätig am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, seit 2013 Elise Richter-Stelleninhaberin (theatricalbeing.ac.at). Forschungsschwerpunkte: experimentelles, interkulturelles, neoavantgardistisches Theater im 20. Jh. (v. a. Österreich, Italien), Schauspieltheorie des 20. Jh. sowie Theateranthropologie.


Anmerkungen


[1] Mirsky, Daniel / Sandoval, Amélie / Streble, Ingrid: Vorwort. In: Mirsky, Daniel / Sandoval, Amélie / Streble, Ingrid (Hg.): Verboten, verschwiegen, ungehörig? Ein Blick auf Tabus und Tabubrüche / Interdit, Incponvenant, Inacceptable? Pour une réflexion sur les tabous et leur violation. Berlin: logos 2008 (= Schriften zur Kultur- und Geistesgeschichte 1), S. 11-13, S. 11.

[2] Vgl. z.B.: Sandoval, Amélie :Introduction: Aux origines du terme „tabou“. In: Mirsky, Daniel / Sandoval, Amélie / Streble, Ingrid (Hg.): Verboten, verschwiegen, ungehörig?, S. 17-20, S. 17, bzw.: Hasselmann, Kristine: Theater und Tabu. Aisthetische Grenzerprobungen an tabu-immanenten Markierungen. In: Gronau, Barbara / Lagaay, Alice (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion. Bielefeld: transcript 2010, S. 313-329.

[3] Lehmann, Hans-Thies: Ästhetik des Risikos. Notizen über Theater und Tabu. In: Tabu. Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 60 (1987), S. 55-61, S. 55.

[4] Hasselmann, Kristine: Theater und Tabu, S. 313-314.

[5] Ebd., S. 314.

[6] Junge, Torsten: Todestabuisierungen – zur Gourvernementalität des Lebensendes. In: Mirsky, Daniel / Sandoval, Amélie / Streble, Ingrid (Hg.): Verboten, verschwiegen, ungehörig?, S. 153-168, S. 153.

[7] Lehmann, Hans-Thies: Ästhetik des Risikos, S.57. Lehmann begründet dies anhand der Funktion des Spiegelns der Gesellschaft über die Ursprungstheorie aus dem Ritus, das zeitliche Zusammenspiel von darstellenden und zusehenden Personen bis hin zur vielzitierten physischen Präsenz der Körper, wodurch auch die „Aura all jener Tabus [erhalten bleibt], von denen die erotische und kriegerische Gewalt umgeben ist, die den Körper treffen kann. Heiliges und Obszönes gehören zusammen im Theater, das stets ein Ort der Erregung und Beeinflussung von Affekten war.“ (Ebd., S.59.). Lehmann führt schließlich als Lösungsformel die „Ästhetik des Risikos“ ein, mit der er sich gegen „die pädagogische Zurichtung von Kunst“ wendet und der Chance zuwendet, die darin bestehe, „auf Probe die Gewalt, die hinter dem Vorhang des Tabu wartet und vor der das Tabu schützen soll, im – hoffentlich – doppelten Sinn des Wortes ;auszuspielen´.“ (Ebd, S. 61.)

[8] Vgl.: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999.

[9]: „Da schließt sich der Kreis zu meinem theoretischen Theatertext. Ich will die Risse sichtbar machen. Ich will, wenn ich überhaupt noch für das Theater schreibe, ein anderes Theater. Ich will von dem Theater, das mich bisher zurückgestoßen hat, fortkommen und sehen, ob es mir nachkommt.“ (Roeder, Anke: Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater. Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Roeder, Anke (Hg.): Autorinnen: Herausforderungen an das Theater. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S.141-158, S. 156.) Dieses Statement ist auch Titel gebend für den dritten Band der Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums: Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: „Ich will kein Theater“. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag 2007 (=DISKURSE. KONTEXTE. IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 3).

[10] Jelinek, Elfriede: Tod-krank.Doc (für Christoph Schlingensief)http://www.elfriedejelinek.com/ (18.1.2014), datiert mit 3.3.2009 / 21.8.2010 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Theatertexte, Archiv 2009, Archiv 2010).

[11] Müller, André: „Ich lebe nicht.“ Interview mit Elfriede Jelinek. In: Die Zeit, 22.6.1990.

[12] „Der Muttermord ist im Matriarchat das stärkste Tabu. Die Ermordung Klytämnestras durch Orest ist schon ein Zeichen des Übergangs in das Vaterrecht. Aber auch da hat es nicht die Tochter getan. Elektra schürt nur im Hintergrund. Ich habe ein extrem gestörtes Verhältnis zum Tod […]“ (Müller, André: „Ich lebe nicht.“).

[13] Lücke, Bärbel: Bambiland; Babel; Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach!); Tod-krank.Doc (für Christoph Schlingensief. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 190-198, S. 196.

[14] Schirrmeister, Benno: Alles endet „In der Hölle“. Jelinek-Uraufführung in Bremenhttp://www.taz.de/!128614/ (21.1.2014), datiert mit 2.12.2013.

[15] Becker, Tobias: Legenden des Leidens. In: Theater heute 1/2014, S. 22-23, S. 22.

[16] Vgl. hierzu auch: Doppler, Bernhard: Textschleifen und Nebelschwadenhttp://derstandard.at/1385169604754/Textschleifen-und-Nebelschwaden (21.1.2014), datiert mit 2.12.2013. bzw.: Schomacker, Tim: Blutkuchen angerührthttp://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8813:tod-krankdoc-das-bildbearbeitungsprogramm-von-mirko-borscht-naehert-sich-in-bremen-elfriede-jelinek&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40 (10.2.2014).

[17] Jelinek, Elfriede: Tod-krank.Doc (für Christoph Schlingensief).

[18] Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht seinTagebuch einer Krebserkrankung. Köln: Kiepenhauer 2009, S. 246.

[19] Dreher, Thomas: Performance nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. München: Fink 2001, S. 317.

[20] Gin Müller hat u.a. auch die Prinzessinendramen von Elfriede Jelinek mit dem Einsatz von Jelineks Stimme auf der Bühne umgesetzt (Who shot the Princess? Boxstop Telenovelas). Vgl. dazu: Pfeiffer, Gabriele C.: transkatholisch, transnational, queer und politisch. Das Theater von Gin/i Müller. In: Schininà, Alessandra (Hg.): Studien über das österreichische Theater der Gegenwart / Studi sul teatro austriaco contemporaneo. St. Ingbert: Röhrig 2013, S. 125-140 (= Österreichische und internationale Literaturprozesse 21).

[21] Brick-5, Verein zur Förderung der multimedialen Kunst und Technik, befindet sich im 15. Wiener Gemeindebezirk. Siehe auch: http://www.brick-5.at/.

[22] Notizen von Gin Müller zu gin_girlboy_perfomrancx1 mit großem Dank aus dem Privatarchiv zur Verfügung gestellt. Hier und im Weiteren zitiert.

[23] Schlingensief erzählt bei unterschiedlichen Gelegenheiten von dem Moment, als er „infiziert“ wurde, als er begann, Filmprojektoren interessant zu finden. Vgl. z.B.: Schlingensief, Christoph: Ich weiß, ich war’s. Hg. von Aino Laberenz. Köln: Kiepenhauer & Witsch 2012, S. 43.

 


ZITIERWEISE
Marschall, Brigitte / Pfeiffer, Gabriele C.: PERVERTIERUNGEN. KÖRPER / ERPROBUNGEN. https://jelinektabu.univie.ac.at/tabu/tabu-geschlecht-kunst/brigitte-marschall-gabriele-c-pfeiffer/  (Datum der Einsichtnahme) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek)
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